Das Jahr der Flut
können wir zwischen zwei Tassen wählen, brachte Nuala den kleinen Kindern bei. In beiden ist zwar dasselbe drin, aber was glaubt ihr, wie unterschiedlich der Inhalt schmecken kann!
Bitter schmeckt die Tasse Nein, die Tasse Ja schmeckt süß und fein!
Dies war eine der Grundmaximen der Gärtner. Aber obwohl Lucerne die Weisheiten nachsprechen konnte, hatte sie sie durchaus nicht verinnerlicht: Einen Heuchler erkannte Toby sofort, schließlich war sie selbst einer. Kaum hatte Toby als Pflegerin angefangen, sprudelte alles, was in Lucerne gärte, nur so aus ihr heraus. Toby nickte und schwieg in der Hoffnung, mitleidig zu wirken, wobei sie in Wahrheit überlegte, wie viele Tropfen Schlafmohn erforderlich wären, um Lucerne eine Zeitlang lahmzulegen und damit zu verhindern, dass sie, Toby, ihrem schlimmsten Impuls nachgab und ihr an die Gurgel ging.
Während sie schnellen Schrittes durch die Straßen ging, ahnte Toby, was sie sich von Lucerne für Klagen würde anhören müssen. Getreu dem alten Muster würde es um Zeb gehen: Warum war er nie da, wenn Lucerne ihn brauchte? Wie war sie bloß hier gelandet, in diesem Misthaufen voller Spinner − dich meine ich nicht, Toby, du bist ja noch halbwegs vernünftig −, die ja nun wirklich völlig weltfremd waren? Sie war hier lebendig begraben an der Seite eines ungeheuerlichen Egoisten, für den nur seine eigenen Bedürfnisse wichtig waren. Genauso könne man sich mit einer Kartoffel unterhalten − oder nein, mit einem Felsblock. Er hörte einem nicht zu, man wusste nie, was er dachte, er war hart wie Feuerstein.
Dabei hatte Lucerne sich alle Mühe gegeben. Sie wollte ja ein verantwortungsvoller Mensch sein, sie wollte ja wirklich glauben, dass Adam Eins in vielem recht hatte, und niemand war tierlieber als sie, aber alles hatte seine Grenzen, und dass die Nacktschnecke ein zentrales Nervensystem hat, konnte man ihr nicht erzählen, und ihr eine Seele anzudichten, zog ja wohl jedweden Begriff von Seele ins Lächerliche, und das nahm sie ihnen übel, denn niemand hatte mehr Ehrfurcht vor der Seele als sie, sie war immer ein sehr spiritueller Mensch gewesen. Und was die Rettung der Welt anbelangte, niemand war mehr auf die Rettung der Welt erpicht als sie, aber egal, wie sehr sich die Gärtner vernünftigem Essen, vernünftigen Kleidern und sogar vernünftigem Duschen verweigerten, Herrgott nochmal, egal, wie groß ihre moralische Überlegenheit und Tugendhaftigkeit war, es würde ja nicht das Geringste ändern. Sie waren genau wie diese Leute damals im Mittelalter, die sich selbst auspeitschten − diese Flagranten.
»Flagellanten«, hatte Toby noch beim ersten Mal gesagt.
Später hatte Lucerne betont, dass sie das mit den Gärtnern nicht so gemeint habe, dass sie nur etwas niedergeschlagen sei wegen ihrer Kopfschmerzen. Auch deshalb, weil man auf sie herabsehe, weil sie von einem Konzern komme und weil sie wegen Zeb ihren Mann verlassen hatte. Man traue ihr nicht. Man halte sie für eine Schlampe. Man würde hinter ihrem Rücken dreckige Witze reißen. Jedenfalls die Kinder − war doch so, oder?
»Die Kinder reißen über jeden dreckige Witze«, hatte Toby gesagt. »Auch über mich.«
»Über dich?«, hatte Lucerne gesagt und ihre großen Augen mit den dunklen Wimpern aufgerissen. »Warum sollten sie über dich dreckige Witze reißen?« Du bist doch asexuell, wollte sie damit sagen. Flach wie ein Brett, hinten und vorne. Eine Arbeiterin im Bienenstock des Herrn.
Einen Vorteil hatte es: Zumindest hatte Lucerne keinen Grund, auf sie eifersüchtig zu sein. In dieser Hinsicht stand Toby unter den Gärtnerfrauen allein da.
»Es stimmt nicht, dass sie auf dich herabsehen«, hatte Toby gesagt. »Niemand hält dich für eine Schlampe. Jetzt entspann dich einfach, schließ die Augen und stell dir vor, wie die Weide durch deinen Körper fließt, bis hinauf in deinen Kopf, wo der Schmerz sitzt.«
Die Gärtner sahen wirklich nicht auf Lucerne herab, zumindest nicht aus den von ihr genannten Gründen. Ihren schlampigen Arbeitsstil nahmen sie ihr vielleicht übel und dass sie außerstande war, eine Mohrrübe zu schneiden, sie belächelten sie vielleicht wegen ihrer unaufgeräumten Wohnung und ihres kläglichen Versuchs, auf der Fensterbank Tomaten zu züchten, und weil sie so viel Zeit im Bett verbrachte, aber ihr Untreue oder Ehebruch vorzuwerfen, oder wie immer man früher dazu sagte, lag ihnen absolut fern.
Und zwar deshalb, weil die Gärtner mit der offiziellen Ehe
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