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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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sich zur Gegenwehr: Knackige Fußtritte waren schwierig bei so jungen Kindern − wie Zeb in seinem Gewaltminimierungskurs gezeigt hatte, hatte der Mensch eine instinktive Hemmung, Kindern wehzutun −, aber sie wusste, es würde nicht anders gehen, denn diese Kinder konnten ihrerseits tödlich sein. Sie würden auf ihren Bauch zielen, sie mit ihren harten kleinen Köpfen rammen und versuchen, sie zu Boden zu reißen. Die kleineren hatten die unschöne Angewohnheit, den Gärtnerfrauen unter die weiten Röcke zu tauchen, um blindlings zuzubeißen. Aber sie war vorbereitet: Sobald sie sie zu packen bekam, würde sie ihnen die Ohren umdrehen, ihnen mit der Handkante ins Genick schlagen oder ihre kleinen Schädel packen und gegeneinanderknallen.
    Aber auf einmal schwenkten sie ab wie ein Fischschwarm, zogen an ihr vorbei und verschwanden in einer Gasse.
    Sie drehte sich um und wusste, warum. Es war Blanco. Er war gar nicht im Painball. Er musste entlassen worden oder sonst irgendwie rausgekommen sein.
    Panik ergriff ihr Herz. Sie sah seine blaurot geschundenen Hände, sie spürte schon ihre Knochen brechen. Dies war immer ihre schlimmste Angst gewesen.
    Reiß dich zusammen, sagte sie zu sich. Er ging auf der anderen Straßenseite, und sie steckte in ihrem weiten Overall und hatte den Nasenhut auf, er würde sie vielleicht gar nicht erkennen. Und noch schien er sie nicht bemerkt zu haben. Aber sie war allein unterwegs, und einer spontanen Vergewaltigung nebst Prügelorgie war er bestimmt nicht abgeneigt. Er würde sie in die kleine Gasse zerren, in der die Plebsratten verschwunden waren. Dann würde er ihr den Nasenhut vom Gesicht reißen und sie wiedererkennen. Und das wäre ihr Ende, aber ein schnelles Ende wäre es nicht. Er würde es so lange ausdehnen wie nur möglich. Er würde ein menschliches Reklameschild aus ihr machen − eine halb lebendige Demonstration seiner abscheulichen Fertigkeiten.
    Sie drehte sich auf dem Absatz um und marschierte so schnell wie möglich davon, bevor er auf den Gedanken kam, seinen Unmut auf sie zu richten. Keuchend bog sie um die Ecke, ging einen halben Block, warf einen Blick zurück. Nichts zu sehen.
    Zum ersten Mal war sie überglücklich, vor Lucernes Wohnungstür zu stehen. Sie schob ihren Nasenhut hoch, setzte ein professionelles Lächeln auf und klopfte an.
    »Zeb?«, rief Lucerne. »Bist du das?«
     

SANKT EUELL, SCHUTZPATRON DER WILDWACHSENDEN SPEISEN

Jahr Zwölf
     
    Von den Gaben Sankt Euells
    Gesprochen von Adam Eins
     
    Meine Freunde, meine Mitgeschöpfe, meine lieben Kinder:
    Dieser Tag markiert den Beginn der Sankt-Euell-Woche, in der wir uns aufmachen, um die wildwachsenden Gaben zu pflücken, die uns Gott durch die Natur zur Verfügung gestellt hat. Pilar, unsere Eva Sechs, wird mit uns einen Streifzug durch Heritage Park unternehmen und Pilze suchen, und Burt, unser Adam Dreizehn, wird uns über essbare Kräuter belehren − Wirst du nicht schlau daraus, spuck’s lieber wieder aus! Aber wenn eine Maus schon daran geknabbert hat, ist es wahrscheinlich auch für euch genießbar. Alles jedoch unter Vorbehalt.
    Die älteren Kinder werden sich von Zeb, unserem geschätzten Adam Sieben, zeigen lassen, wie man in Zeiten drängender Not kleinere Tiere fängt. Denkt daran, nichts ist unrein, wenn wir nur Dankbarkeit empfinden und um Vergebung bitten und wenn wir willens sind, uns unsererseits der großen Nahrungskette zu opfern. Denn worin sonst liegt die tiefere Bedeutung des Opferbegriffs?
    Noch immer befindet sich Burts geschätzte Frau Veena in der Brache, und wir hoffen, sie recht bald wieder unter uns begrüßen zu können. Wir wollen sie in Licht tauchen.
    *
    Heute meditieren wir über Sankt Euell Gibbons, der von 1911 bis 1975 auf dieser Erde weilte, vor so langer Zeit, und doch liegt er uns besonders am Herzen. Als sein Vater zwecks Arbeitssuche das traute Heim verließ, verstand es der junge Sankt Euell, seine Familie allein durch sein natürliches Wissen zu ernähren. Er besuchte nie eine andere Schule als die Deine, o Herr. In Deinen Arten fand er seine Lehrer, oftmals streng, aber immer treu. Und anschließend teilte er seine Lehren mit uns.
    Er lehrte uns den Gebrauch Deiner vielen Boviste und anderer nahrhafter Pilze; er lehrte uns die Gefahren der Giftpilze, die jedoch auch, wenn in vernünftigem Maße genossen, von spirituellem Wert sein können.
    Er sang ein Loblied auf die wilde Zwiebel, den wilden Spargel, den wilden Knoblauch, die sich weder plagen

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