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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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schon, Bernice«, sagte ich. »Mach auf. Wir sind’s.«
    Die Tür ging auf, aber es war nicht Bernice. Es war Veena. Sie sah uns direkt ins Gesicht, und mit der Brache schien es auf jeden Fall vorbei zu sein. »Geht«, sagte sie. Dann schloss sie die Tür.
    Wir tauschten einen Blick aus. Ich hatte ein sehr schlechtes Gefühl. Was, wenn wir Bernice mit unserer Geschichte über Burt und Nuala dauerhaft geschadet hatten? Was, wenn sie gar nicht stimmte? Es war ja nur ein Spaß gewesen, am Anfang. Aber jetzt schien es kein Spaß mehr zu sein.
    *
    In jeder anderen Sankt-Euell-Woche wären wir im Heritage Park mit Toby und Pilar Pilze suchen gegangen. Das war immer aufregend, weil man nie wissen konnte, was es zu sehen geben würde. Plebslerfamilien beim Grillen und Streiten, und dann hielten wir uns immer die Nase zu, um den brutzelnden Fleischgestank nicht einatmen zu müssen; Paare, die sich in den Büschen wälzten, Obdachlose, die aus Flaschen tranken und schnarchend unter den Bäumen lagen, und Verrückte mit wirren Haaren, die Selbstgespräche führten oder rumkrakeelten, oder Fixer, die sich einen Schuss setzten. Wenn wir es bis runter zum Strand schafften, lagen da vielleicht Mädchen in Bikinis in der Sonne, und Shackie und Croze würden vielleicht
Hautkrebs
rufen, um auf sich aufmerksam zu machen.
    Man konnte auch CorpSeCorps-Männer auf Ordnungspatrouille treffen, die die Leute ermahnten, ihren Müll in die aufgestellten Mülleimer zu werfen, obwohl sie in Wirklichkeit − sagte Amanda − nach Kleindealern Ausschau hielten, die an ihren Mafiafreunden vorbei verkauften. Ab und zu hörte man das Zippzipp-zipp eines Spraygewehrs und ein paar Schreie.
Hat
Gewaltbereitschaft
signalisiert
, sagten sie dann zu den Zaungästen und schleppten den Typ davon.
    Aber diesmal wurde unser Ausflug in den Heritage Park wegen Pilars Krankheit abgesagt. Stattdessen hatten wir auf dem leeren Grundstück hinter dem Scales and Tails Wildbotanik bei Burt der Bockwurst.
    *
    Wir hatten schon die Schiefertafeln und Kreide parat, weil wir die Wildbotanik immer zeichnen mussten, um sie uns besser merken zu können. Dann wischten wir die Tafeln wieder sauber, und die Pflanze war in unserem Kopf. Erst die Zeichnung öffnet einem die Augen, sagte Burt immer.
    Burt suchte das leere Grundstück ab, pflückte etwas, hielt es für uns hoch. »
Portulaca
oleracea
«, sagte er. »Im Volksmund Portulak genannt. Sowohl Zuchtpflanze als auch wildwachsend. Bevorzugt sandigen Boden. Auffällig ist der rote Stiel, die wechselständigen Blätter. Ein guter Omega-3-Lieferant.« Er hielt inne und sah uns stirnrunzelnd an. »Die Hälfte der Klasse passt nicht auf, und die andere Hälfte zeichnet nicht«, sagte er. »Das hier könnte euch das Leben retten! Wir reden hier von
Lebensunterhalt
. Was ist das, Lebensunterhalt?«
    Dumpfe Blicke, Schweigen. »Lebensunterhalt«, sagte die Bockwurst, »ist das, was den Körper des Menschen am Leben erhält. Auch Nahrung genannt. Nahrung! Woher kommt unsere Nahrung? Alle sind gefragt.«
    Und wir sprachen im Chor: »Alle Nahrung kommt von der Erde.«
    »Richtig!«, sagte Burt. »Von der Erde! Und wird dann von den meisten Leuten im Supermarkt gekauft. Was wäre denn, wenn es plötzlich keine Supermärkte mehr gäbe? Shackleton?«
    »Müsste man aufm Dach anpflanzen«, sagte Shackie.
    »Gesetzt den Fall, es gäbe keine Dächer mehr«, sagte die Bockwurst, und sein Gesicht verfärbte sich rosa. »Wo bekäme man die Nahrung dann her?« Noch mehr ratlose Blicke. »Man würde
auf
Nahrungssuche
gehen«, sagte die Bockwurst. »
Crozier
, was verstehen wir unter Nahrungssuche?«
    »Zeug finden«, sagte Croze. »Zeug, was man nicht bezahlen muss. So wie filzen.« Wir lachten.
    Die Bockwurst hörte darüber hinweg. »Und wo würdest du nach diesem
Zeug
suchen? Quill?«
    »In der Passage?«, sagte Quill. »Dahinter so. Wo das ganze Zeug entsorgt wird, alte Flaschen und der ganze Kram, und …« Quill war schon etwas unterbelichtet, stellte sich aber jetzt absichtlich dumm. Damit wollte er die Bockwurst provozieren.
    »Nein, nein!«, rief die Bockwurst. »Es gibt dann nichts mehr zum Entsorgen! Du bist noch nie rausgekommen aus diesem Plebs, was? Du hast noch nie eine Wüste gesehen, du hast noch nie eine
erlebt! Wenn die wasserlose Flut kommt, selbst wenn du persönlich sie überleben solltest, wirst du verhungern! Und warum? Weil du überhaupt nicht aufgepasst hast! Warum verschwende ich mit dir eigentlich meine Zeit?« In

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