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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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zischte sie.
    »Lass mich los!«, sagte ich. »Was soll ich dir sagen?«
    »Das weißt du ganz genau! Worüber lacht ihr die ganze Zeit, du und Amanda?«
    »Über nichts«, sagte ich.
    Sie drehte noch fester. »Ist ja gut«, sagte ich, »aber es wird dir nicht gefallen.« Dann erzählte ich ihr von der Sache mit Burt und Nuala und was die beiden im Essigraum so trieben. Anscheinend lag es mir schon länger auf der Zunge, weil es richtig rausgeschossen kam.
    »Das ist total gelogen!«, sagte sie.
    »Was ist total gelogen?«, fragte Amanda, die gerade von der Porta-Biolette zurückkam.
    »Dass mein Vater die Feuchthexe bumst«, zischte Bernice.
    »Ging nicht anders«, sagte ich. »Die hat mir den Arm verdreht.« Bernice hatte ganz rote und verheulte Augen, und wäre Amanda nicht aufgetaucht, hätte sie mir eine runtergehauen.
    »Ren übertreibt manchmal«, sagte Amanda. »Streng genommen wissen wir’s gar nicht genau. Wir haben nur den Verdacht, dass dein Vater die Feuchthexe bumst. Vielleicht stimmt es gar nicht. Aber man könnte ihn schon verstehen, wo deine Mutter so oft in der Brache ist. Er ist bestimmt notgeil − deswegen grabscht er den Mädchen ja auch ständig unter die Achselhöhlen.« Das alles sagte sie mit ganz tugendhafter Eva-Stimme. Es war grausam.
    »Das stimmt nicht«, sagte Bernice. »Das ist nicht wahr!« Sie war kurz davor, in Tränen auszubrechen.
    »Aber wenn doch«, sagte Amanda mit ihrer ruhigen Stimme, »solltest du dir dessen bewusst sein. Ich meine ja nur, wenn ich einen Vater hätte, würde ich auch nicht wollen, dass er irgendein fremdes Fortpflanzungsorgan bumst außer das meiner Mutter. Das ist keine schöne Angewohnheit − und so unhygienisch. Du müsstest dir ja Sorgen machen, wenn er mit seinen verseuchten Fingern dann an dir rumfummelt. Wobei ich mir ziemlich sicher bin, dass er gar nicht —«
    »Ich hasse dich abgrundtief!«, sagte Bernice. »Ich hoffe, dass du verschmorst und stirbst!«
    »Du bist aber
sehr nachtragend
, Bernice«, sagte Amanda mit vorwurfsvoller Stimme.
    »Na, Mädchen«, sagte Nuala, die auf uns zugewuselt kam. »Habt ihr viel verkauft? Bernice, was hast du denn so rote Augen?«
    »Ich bin gegen irgendwas allergisch«, sagte Bernice.
    »Ja, das stimmt«, sagte Amanda andächtig. »Ihr geht’s nicht so gut. Vielleicht sollte sie besser nach Hause gehen. Oder es liegt an der schlechten Luft. Vielleicht sollte sie sich einen Nasenhut anschaffen. Was meinst du, Bernice?«
    »Es freut mich, Amanda, dass du so fürsorglich bist«, sagte Nuala. »Ja, Bernice, du solltest wirklich sofort gehen, Liebes. Und morgen kümmern wir uns um einen Nasenhut für dich wegen deiner Allergie. Komm, Liebes, ich begleite dich ein Stück.« Und sie legte Bernice den Arm um die Schulter und führte sie weg.
    Ich konnte selbst kaum glauben, was wir gerade getan hatten. Ich hatte ein Gefühl im Magen, wie wenn man aus Versehen etwas Schweres fallen lässt und weiß, dass es gleich den Fuß treffen wird. Wir waren eindeutig zu weit gegangen, aber ich wusste nicht, wie ich es ansprechen sollte, ohne dass Amanda glaubte, ich wollte eine Predigt halten. Auf jeden Fall war es nicht rückgängig zu machen.
     
    28.
     
    Genau in dem Moment tauchte ein Junge, den ich noch nie gesehen hatte, vor unserem Stand auf − ein Jugendlicher, älter als wir. Er war groß, dünn und dunkelhaarig und hatte nichts von dem an, was die Reichen sonst immer anhatten. Er war einfach nur ganz in Schwarz.
    »Was darf ich für Sie tun, Sir?«, sagte Amanda. Wenn wir Standdienst hatten, imitierten wir manchmal die GeheimBurger-Sklaven.
    »Ich muss mit Pilar sprechen«, sagte er. Kein Lächeln, nichts. »Irgendwas stimmt mit dem hier nicht.« Er zog ein Glas Gärtnerhonig aus seinem Rucksack. Das war seltsam, denn was sollte schon mit dem Honig nicht stimmen? Pilar sagte, Honig würde nur schlecht werden, wenn er mit Wasser in Berührung käme.
    »Pilar geht’s heute nicht gut«, sagte ich. »Red doch mit Toby, die ist da hinten bei den Pilzen.«
    Er sah sich nach allen Seiten um, er wirkte nervös. Er schien niemanden dabeizuhaben − keine Freunde, keine Eltern. »Nein«, sagte er. »Es muss Pilar sein.«
    Zeb verließ den Gemüsestand, wo er Klettenwurzel und Gänsefuß verkaufte, und kam zu uns rüber. »Stimmt was nicht?«, fragte er.
    »Er will Pilar sprechen«, sagte Amanda. »Wegen einem Glas Honig.« Zeb und der Junge sahen sich an, und ich meinte zu sehen, wie der Junge kurz den Kopf

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