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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Honig der Bienen und auch an die Spinnweben, die so nützlich sind, um blutende Wunden zu stillen. Gegen jedes Leiden hat Gott in Seinem großen Arzneischrank der Natur ein Kraut wachsen lassen!
    Durch die Arbeit der Mistkäfer und Fäulnisbakterien wird unsere fleischliche Wohnstätte aufgelöst und erneut den Elementen zugeführt, um anderer Geschöpfe Leben zu bereichern. Wie fehlgeleitet waren doch unsere Vorfahren, was die Konservierung von Leichen anging − einbalsamieren, dekorieren, in Mausoleen einschließen. Wie entsetzlich − die sterbliche Hülle in einen unseligen Fetisch zu verwandeln! Und, man muss sagen, wie egoistisch! Was spricht dagegen, das Geschenk des Lebens zurückzugeben, indem wir uns dem Leben zurückschenken, wenn die Zeit gekommen ist?
    Wenn ihr das nächste Mal feuchten Kompost in der Hand haltet, so sprecht ein stilles Dankgebet an alle vorherigen Geschöpfe Gottes. Stellt euch vor, wie ihr jedes mit euren Fingern liebevoll umarmt. Denn sie sind ganz gewiss hier bei uns, allgegenwärtig in jener nährenden Matrix.
    Und nun lasst uns gemeinsam mit unserem Blütenblätter-Chor unser traditionelles Kinderlied anstimmen.
     
    EIN LOB DER KLEINEN MAULWÜRFE
     
    Ein Lob der kleinen Maulwürfe,
    Der unterirdisch regen:
    Ameise, Wurm und Nematod
    Auf allen ihren Wegen.
     
    Sie leben in der Dunkelheit,
    Der Menschen ungeachtet;
    Die Erde ist wie Luft für sie,
    Ihr Tag wie unsere Nacht.
     
    Sie wälzen und sie pflügen um, Der Pflanzen zum Gedeih. Die Erde ohne sie wär eine Triste Wüstenei.
     
    Die Maden und die Würmer, die
    An düstern Stellen aasen:
    Sie räumen unsere Reste auf
    Und schaffen neuen Rasen.
     
    Den guten Tieren unseres Herrn,
    Tief unter Wald und Wiese,
    Lasst singen uns am heutigen Tag:
    Denn Gott liebt alle diese.
     
    Aus dem
Gesangbuch der Gottesgärtner

 
    31.
Toby. Maulwurfstag, Jahr Fünfundzwanzig
     
    Während die Flut wütet, müsst ihr die Tage zählen, sagte Adam Eins. Ihr müsst Sonnenaufgänge und Mondphasen verfolgen, denn alles hat seine Zeit. Reist bei euren Meditationen nicht zu weit in eure inneren Landschaften, auf dass ihr nicht vor der Zeit in die Zeitlosigkeit gelangt. Seid ihr in der Brache, so steigt niemals so tief hinab, dass es kein Wiederaufleben gibt, sonst bricht über euch die Nacht herein, in der euch alle Stunden gleich sind, und dann erlischt jede Hoffnung.
    *
    Auf einigen alten AnuYu-Spa-im-Park-Notizzetteln hat Toby die Tage verzeichnet. Am oberen Rand jedes rosafarbenen Blattes prangt ein zwinkerndes Augenpaar mit langen Wimpern, darunter ein Lippenstiftkuss. Die Augen und die lächelnden Münder gefallen ihr: Irgendwie sind es ihre Gefährten geworden. Oben auf jede neue Seite notiert sie in Druckbuchstaben den jeweiligen Gärtner-Feiertag oder Namenstag. Noch immer kann sie die gesamte Liste auswendig aufsagen: Sankt E. F. Schumacher, Sankt Jane Jacobs, Sankt Sigrudsdottir von Gullfoss, Sankt Wayne Grady, Schutzpatron der Geier; Sankt James Lovelock, der gesegnete Gautama Buddha; Sankt Bridget Stutchbury, Schutzpatronin des Schattenkaffees; Sankt Linnaeus, Schutzpatron der botanischen Nomenklatur; Tag der Crocodylidae, Sankt Stephen Jay Gould, Schutzpatron des Burgess-Schiefers; Sankt Gilberto Silva, Schutzpatron der Fledermäuse. Und den ganzen Rest.
    Unter jedem Namenstag notiert sie etwas zum Garten: was gesät wurde, was geerntet, welche Mondphase, welche Insekten sich blicken ließen.
    Tag des Maulwurfs, schreibt sie jetzt. Jahr Fünfundzwanzig. Wäsche waschen. Dreiviertelmond. Der Tag des Maulwurfs war ein Teil der Sankt-Euell-Woche. Kein allzu schöner Jahrestag.
    Andererseits dürften schon die ersten Polybeeren reif sein. Der Vorteil des transgenen Polybeerstrauchs besteht darin, dass er zu allen Jahreszeiten Früchte trägt. Vielleicht wird sie am späten Nachmittag nach unten gehen und welche pflücken.
    *
    Vor zwei Tagen − an Sankt Orlando Garrido, Schutzpatron der Eidechsen − notierte sie etwas, das mit dem Gärtnern nichts zu tun hatte.
Halluzination
?, hatte sie geschrieben. Jetzt denkt sie über diesen Eintrag nach. In dem Moment war es ihr wirklich wie eine Halluzination vorgekommen.
    Das tägliche Gewitter war gerade vorbei gewesen. Sie war oben auf dem Dach und überprüfte die Verbindungen zwischen den Regentonnen: Der Abfluss des einzigen Wasserhahns, den sie im unteren Geschoss benutzte, war verstopft. Sie fand das Problem − eine ertrunkene Maus im Zulauf − und wollte sich gerade umdrehen und nach

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