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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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unten gehen, als sie ein seltsames Geräusch hörte. Es war eine Art Gesang, aber nichts, was sie je schon mal gehört hätte.
    Sie griff sich ihr Fernglas. Erst war da nichts, doch dann tauchte am Rand der Wiese eine merkwürdige Prozession auf. Sie schien komplett aus nackten Menschen zu bestehen, wobei ein Mann, der vorneweg lief, bekleidet war und eine Art roten Hut auf dem Kopf und − konnte das sein? − eine Sonnenbrille auf der Nase hatte. Ihm folgten Männer, Frauen und Kinder jeder denkbaren Hautfarbe; als sie sie genauer in den Blick nahm, konnte sie erkennen, dass einige der Nackten einen blauen Unterleib hatten.
    Das war der Grund, weshalb sie sich für die Halluzination entschied: dieses Blau. Und der gläserne Gesang, der nicht von dieser Welt war. Sie hatte nur einen kurzen Blick auf die Gestalten werfen können. Erst waren sie da, und dann waren sie weg, als wären sie verpufft wie Rauch. Sie waren wohl zwischen den Bäumen verschwunden, den Pfad entlang.
    Unwillkürlich hatte ihr Herz einen Freudensprung gemacht. Am liebsten wäre sie hinunter-, hinaus-und hinterhergelaufen. Aber andere Menschen und gleich so viele − das wäre einfach zu viel des Guten gewesen. Andere Menschen, die so gesund aussahen. Sie konnten unmöglich echt sein. Ließe sie sich durch ein so verführerisches Hirngespinst ins Freie locken − in den Wald, wo es von Schweinen wimmelte −, wäre sie nicht der erste Mensch auf der Welt, den seine allzu optimistischen Projektionen ins Verderben geführt hätten.
    Angesichts von zu viel Leere, sagte Adam Eins, beginnt das Gehirn zu erfinden. Einsamkeit schafft Gesellschaft, wie Durst Wasser schafft. Wie viele Seeleute wurden schiffbrüchig auf der Jagd nach einer Insel, die nur ein Schimmern auf dem Wasser war.
    Sie nimmt den Bleistift und streicht das Fragezeichen aus.
Hallu
zination
steht da jetzt nur noch. Schlicht und einfach. Kein Zweifel.
    *
    Sie legt den Bleistift hin, nimmt den Stiel ihres Wischmopps, ihr Fernglas und das Gewehr und stapft die Treppe hinauf aufs Dach, um ihr Reich zu überblicken. Heute Morgen ist alles ruhig. Nichts regt sich da draußen auf der Wiese − keine großen Tiere, keine nackten blaustichigen Sänger.
     
    32.
     
    Wie lange ist es her, dieser Maulwurfstag, Pilars letzter? Es muss im Jahr Zwölf gewesen sein.
    Kurz davor war das Fiasko mit Burts Verhaftung gewesen. Nachdem er vom CorpSeCorps mitgenommen worden war und Veena und Bernice das leere Grundstück verlassen hatten, hatte Adam Eins die Gärtner zu einer Krisensitzung auf dem Felsen Eden zusammengerufen. Er hatte ihnen die Neuigkeit überbracht, und als sie es begriffen hatten, waren die Gärtner in einen Schockzustand verfallen. Was für eine schmerzhafte und beschämende Enthüllung! Wie hatte Burt im Buenavista-Haus Marihuana anbauen können, ohne dass jemand Verdacht schöpfte?
    Natürlich durch Vertrauen, denkt Toby. Die Gärtner vertrauten keinem aus der Außenhölle, nur ihren eigenen Leuten. Jetzt konnten auch sie sich in die lange Schlange der Gläubigen einreihen, die eines Tages aufwachen und feststellen, dass sich der Vikar mit den Kirchengeldern davongemacht und reihenweise missbrauchte Chorknaben zurückgelassen hatte. Immerhin hatte Burt keine Chorknaben missbraucht, zumindest soweit man wusste. Es kursierten unter den Kindern einige Gerüchte − unschöne Bemerkungen, wie sie unter Kindern normal waren −, aber es ging dabei nicht um die Jungs. Nur um die Mädchen und nur um ein bisschen Grapschen.
    Der Einzige unter den Gärtnern, der sich weder überrascht noch entsetzt zeigte über den Anbau, war Philo der Smog, wobei ihn ja selten etwas überraschte oder entsetzte. »Das Kraut würd ich gern mal ausprobieren, um zu sehen, ob’s was taugt« − mehr hatte er dazu nicht zu sagen.
    Adam Eins bat um Freiwillige, um die so plötzlich vertriebenen Familien aufzunehmen − ins Buenavista-Haus könnten sie nicht mehr zurück, sagte er, das ganze Haus wimmele von CorpSeCorps-Männern, also müssten sie ihre materielle Habe als verloren betrachten. »Wenn das Gebäude gebrannt hätte, wärt ihr auch nicht wieder hineingelaufen, um euer bisschen Tand und Flitterkram zu retten«, sagte er. »Auf diese Weise prüft Gott, wie sehr ihr dem Reich der sinnlosen Illusionen verhaftet seid.« Den Gärtnern hätte das eigentlich nichts ausmachen dürfen: Ihren materiellen Besitz hatten sie auf Schrottplätzen und Müllhalden aufgelesen, also konnten sie theoretisch jederzeit neuen

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