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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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einen Gefallen?«
    »Welchen denn?«, fragte Toby vorsichtig. Sie wollte die Eva-Pflichten nicht − sie wollte ihre Möglichkeiten offenhalten. Sie wollte das Gefühl haben, jederzeit gehen zu können. Ich war nur opportunistisch, dachte sie. Habe nur den guten Willen dieser Leute ausgenutzt. Was bin ich falsch.
    »Bete um göttliche Führung«, sagte Adam Eins. »Feiere eine Vigil. Bete um Kraft, dich deinen Zweifeln und Ängsten zu stellen. Ich bin zuversichtlich, dass dir eine positive Antwort beschieden wird. Du hast Gaben, die nicht verschwendet werden sollten. Wir alle würden dich gern als Eva unter uns begrüßen, das sei dir versichert.«
    »Gut«, sagte Toby. »Kann ich machen.« Für jedes Ja, dachte sie, gibt es auch ein Nein.
    *
    Pilar war es, die über die Vigilmaterialien und alle anderen außerkörperlichen Reisesubstanzen der Gärtner verfügte. Aufgrund ihrer Krankheit − einer Magengrippe, wie es hieß − hatte Toby seit mehreren Tagen nicht mit ihr gesprochen. Aber Adam Eins hatte bei ihrem Gespräch die Krankheit nicht einmal erwähnt, also war Pilar vielleicht wieder gesund. So etwas dauerte doch selten länger als eine Woche.
    Toby suchte Pilar in ihrer winzigen Kabine im hinteren Teil des Gebäudes auf. Pilar saß aufgestützt auf ihrem Futon; eine Bienenwachskerze in einer Blechdose flackerte neben ihr auf dem Boden. Die Luft war stickig und roch nach Erbrochenem. Doch die Schüssel, die neben Pilar stand, war sauber.
    »Liebe Toby«, sagte Pilar. »komm und setz dich zu mir.« Ihr kleines Gesicht erinnerte noch mehr an eine Walnuss als sonst, auch wenn die Haut blass war, so blass zumindest, wie braune Haut werden kann. Gräulich. Schlammig.
    »Geht’s dir besser?«, fragte Toby und nahm Pilars sehnige Kralle in beide Hände.
    »Oh ja. Viel besser«, sagte Pilar mit süßem Lächeln. Ihre Stimme war alles andere als fest.
    »Was war es denn?«
    »Ich hatte etwas Falsches gegessen«, sagte Pilar. »Was kann ich für dich tun?«
    »Ich wollte mich vergewissern, dass mit dir alles in Ordnung ist«, sagte Toby, und im selben Moment wurde ihr klar, dass es genau so war. Pilar sah dermaßen bleich und ausgelaugt aus. Toby spürte Angst: Wenn nun Pilar, die so zeitlos wirkte, die es bestimmt schon immer gegeben hatte, zumindest sehr lange, wie einen Felsblock oder einen uralten Baumstumpf − wenn sie nun auf einmal nicht mehr da wäre?
    »Das ist aber lieb von dir«, sagte Pilar. Sie drückte Toby die Hand.
    »Und Adam Eins hat mich gebeten, eine Eva zu werden.«
    »Was du vermutlich abgelehnt hast?«, fragte Pilar lächelnd.
    »Stimmt«, sagte Toby. Pilar konnte fast immer ihre Gedanken lesen. »Aber er möchte, dass ich eine Vigil feiere und um göttliche Führung bete.«
    »Das wäre das Beste«, sagte Pilar. »Du weißt, wo ich die Sachen dafür aufbewahre. Das braune Fläschchen«, sagte sie, während Toby den Vorhang aus Gummibändern und Schnüren vor den Vorratsregalen öffnete. »Das braune da, auf der rechten Seite. Nur fünf Tropfen und zwei aus dem lilafarbenen.« »Habe ich diese Mischung schon mal genommen?«, fragte Toby.
    »Genau diese noch nicht. Bei dieser wirst du eine Antwort bekommen. Sie verfehlt ihre Wirkung nie. Die Natur betrügt uns nicht. Das ist dir doch bewusst?«
    Toby war nichts dergleichen bewusst. Sie maß die Tropfen in eine von Pilars angeschlagenen Teetassen ab und stellte das Fläschchen zurück. »Bist du sicher, dass es dir wieder besser geht?«, fragte sie.
    »Mir geht es gut«, sagte Pilar. »Im Moment. Und der Moment ist die einzige Zeit, in der es uns gut gehen kann. Jetzt geh, Toby, und hab eine wunderbare Vigil. Heute ist Dreiviertelmond. Genieß ihn!« Beim Austeilen der Kopfreisen hatte Pilar etwas vom Betreiber eines Kinderkarussells.
    *
    Ihre Vigil beschloss Toby in der Tomatenecke des Dachgartens abzuhalten. Sie schrieb sich dafür auf der Schiefertafel ein, wie es Vorschrift war: Feiernde spazierten manchmal davon, und um sie aufzuspüren, war es hilfreich, zu wissen, wo sie eigentlich hätten sein sollen.
    Adam Eins hatte vor einiger Zeit begonnen, auf jedem Stockwerk im Treppenflur einen Pförtner zu postieren. Also komme ich im Gärtnerhaus nicht ungesehen nach unten, dachte Toby. Es sei denn, ich falle vom Dach.
    Sie wartete bis zur Dämmerung, ehe sie die Tropfen einnahm, zusammen mit einer Mischung aus Holunder-und Himbeersaft, um den Geschmack zu übertünchen: Pilars Vigiltrunk schmeckte immer nach Mulch. Dann setzte sie sich in

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