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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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gefällt dir die Schule, was habt ihr für Lehrer,
und so brachten wir den Weg ohne Zwischenfälle hinter uns. Die Häuser, an denen wir vorbeikamen, waren in unterschiedlichem Stil gebaut, aber alle mit Solartechnik. In den Komplexen war man technisch auf dem neuesten Stand, was Lucerne andauernd betont hatte.
Ehrlich, Brenda, die sind hier wirklich so viel grüner als diese puristischen Gärtner, du musst dir also überhaupt keine Gedanken machen, wie viel heißes Wasser du verbrauchst, im Übrigen, wird’s nicht mal wieder Zeit für eine Dusche?
    Das Schulgebäude war blitzsauber − kein Graffiti, kein bröckelnder Putz, keine eingeschlagenen Scheiben. Drum herum lag eine saftige grüne Wiese, davor waren ein paar kugelförmig beschnittene Büsche und ein Denkmal. »Florence Nightingale« stand auf der Plakette, »Die Dame mit der Lampe«. Aber irgendeiner hatte aus dem L ein W gemacht, also stand da »Die Dame mit der Wampe«.
    »Das war Jimmy«, sagte Wakulla. »Mein Laborpartner in Nanoform-Biotech, der hat nur Unsinn im Kopf.« Sie lächelte: Sie hatte extrem weiße Zähne. Lucerne machte mich dauernd auf den desolaten Zustand meiner Zähne aufmerksam und meinte, dass ich unbedingt zur Prophylaxe müsste. Sie wollte unser ganzes Haus renovieren, aber auch für mich hatte sie ein paar Veränderungen geplant.
    Zumindest hatte ich keine Karies. Bei den Gärtnern waren Industriezuckerprodukte verpönt, und sie hatten sehr viel Wert aufs Zähneputzen gelegt, allerdings mit einem ausgefransten Zweig, weil ihnen die Vorstellung verhasst war, sich Plastik oder Tierborsten in den Mund zu stecken.
    *
    Der erste Morgen an dieser Schule war sehr seltsam. Ich hatte das Gefühl, der Unterricht wäre in einer fremden Sprache. Die Fächer waren vollkommen anders, alle redeten vollkommen anders, und dann die ganzen Computer und Ringbücher aus Papier. Davor hatte ich Angst: Es erschien mir wahnsinnig gefährlich, diese ganzen Notizen, die den Feinden in die Hände fallen konnten − sie ließen sich nicht einfach wegwischen wie von einer Schiefertafel. Nachdem ich die Tastatur und die Seiten berührt hatte, wäre ich am liebsten in den Waschraum gerannt, um mir die Hände zu waschen; die Gefahr hatte bestimmt abgefärbt.
    Lucerne sagte, »unsere Familiengeschichte« − die Entführung und so weiter − würde im HelthWyzer-Komplex vertraulich behandelt. Es war aber trotzdem was durchgesickert, denn in der Schule wussten alle Bescheid. Immerhin hatten sie noch nichts von Lucerne als Sexsklavin und ihrem lüsternen Perversen gehört. Wobei mir klar war, dass ich notfalls lügen würde, um Amanda, Zeb und Adam Eins, sogar die normalen Gärtner zu schützen. Jeder ist des anderen Schutzbefohlenen, sagte Adam Eins immer. Allmählich ging mir auf, was er damit meinte.
    In der Mittagspause scharte sich eine Gruppe von Mitschülern um mich. Sie waren nicht gemein, nur neugierig.
Du warst bei ’ner Sekte? Krass!
Waren die sehr verrückt?
Sie hatten jede Menge Fragen. Währenddessen aßen sie ihr Lunch, und überall roch es nach Fleisch. Speck. Fischstäbchen mit zwanzig Prozent Echtfisch. Burger − WyzeBurger genannt − aus Fleisch von der Streckbank. Dafür mussten keine Tiere getötet werden. Es roch aber trotzdem nach Fleisch. Amanda hätte den Speck gegessen, um den anderen zu zeigen, dass die Gehirnwäsche der Müslis an ihr abgeprallt war, aber ich brachte es nicht über mich. Ich schälte das Brötchen von meinem WyzeBurger und versuchte wenigstens das zu essen, aber es stank nach totem Tier.
    »Und, war’s sehr schlimm?«, fragte Wakulla. »Es war nur so ’ne Ökosekte«, sagte ich.
    »Genau wie die Wolf-Jesajaisten«, sagte ein Mitschüler. »Waren es Terroristen?« Alle beugten sich nach vorn: Sie wollten Horrorgeschichten hören.
    »Nein, Pazifisten«, sagte ich. »Wir mussten alle auf so ’nem Dachgarten arbeiten.« Und ich erzählte von der Schneckenumsiedlung. Selbst für meine Ohren hörte es sich extrem seltsam an.
    »Wenigstens musstet ihr die Schnecken nicht essen«, sagte ein Mädchen. »Es gibt ja Sekten, die essen überfahrene Tiere.«
    »Die Wolf-Jesajaisten machen das. Weiß ich aus dem Internet.« »Aber du hast in den Plebs gewohnt. Krass.« Da wurde mir klar, dass ich ihnen etwas voraus hatte, weil ich im Plebsland gelebt hatte, wo keiner von ihnen je gewesen war, außer vielleicht auf einem Schulausflug oder von den Eltern für eine Runde Elendstourismus zum Baum des Lebens mitgeschleppt. Ich hätte

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