Das Jahr der Flut
mir also alles Mögliche ausdenken können.
»Dann war das ja Kinderarbeit«, sagte ein Junge. »’ne kleine Ökosklavin. Ist ja geil!« Alle lachten.
»Sei doch nicht so bescheuert, Jimmy«, sagte Wakulla. »Mach dir nichts draus«, sagte sie zu mir, »der redet immer so ’n Stuss.«
Jimmy grinste. »Habt ihr auch Kohlköpfe angebetet?«, fuhr er fort. »O du großer Kohlkopf, ich küsse deine hochkohlschaftliche Kohlheit!« Er machte einen Kniefall und packte meinen Faltenrock. »Hübsche Blätter, gehen die auch ab?«
»Du Fleischatem«, sagte ich.
»Ich was?«, sagte er lachend. »Fleischatem?«
Dann musste ich erklären, dass das unter militanten Grünen ein schlimmes Schimpfwort war. So wie Schweinefresser. Und Schneckengesicht. Das brachte Jimmy noch mehr zum Lachen.
Ich sah die Versuchung. Ich sah sie genau vor mir. Ich konnte mir noch mehr groteske Geschichten über mein Sektenleben ausdenken und dann so tun, als fände ich das alles genauso schräg wie meine Mitschüler. Das käme an. Aber zugleich sah ich mich aus der Sicht der Adams und Evas: voller Traurigkeit, voller Enttäuschung. Adam Eins, Toby und Rebecca. Und Pilar, obwohl sie tot war. Und sogar Zeb.
Verrat ist so leicht. Man lässt sich einfach reinrutschen. Aber das wusste ich ja schon, wegen der Sache mit Bernice.
*
Wakulla begleitete mich nach Hause, und Jimmy ging mit. Er blödelte die ganze Zeit rum − riss Witze und erwartete, dass wir lachten −, und Wakulla lachte, wenn auch nur höflich. Ich merkte Jimmy an, dass er total in sie verknallt war, wobei mir Wakulla später erzählte, für sie sei Jimmy einfach nur ein guter Freund.
Auf halber Strecke bog Wakulla ab, um nach Hause zu gehen, und Jimmy sagte, er komme noch ein Stück mit, weil er ohnehin in die Richtung müsse. Wenn man zu mehreren war, nervte er; vielleicht glaubte er, es wäre besser, sich über sich selbst lustig zu machen, bevor es andere tun. Aber wenn er sich mal nicht aufspielte, war er viel netter. Ich merkte ihm an, dass er tief im Innern traurig war, denn mir ging es genauso. In der Hinsicht waren wir ein bisschen wie Zwillinge, zumindest hatte ich damals das Gefühl. Er war der erste Junge, mit dem ich wirklich befreundet war.
»Dann muss es für dich ja ganz schön komisch sein hier im Komplex, nach der Zeit im Plebsland«, sagte er eines Tages.
»Schon«, sagte ich.
»Stimmt es, dass deine Mutter von einem Triebtäter ans Bett gefesselt wurde?« Es war typisch für Jimmy, sehr direkt zu fragen, was andere nur dachten, aber niemals ausgesprochen hätten.
»Wo hast du das gehört?«, fragte ich.
»In der Umkleide«, sagte Jimmy. Also machte Lucernes Märchengeschichte tatsächlich die Runde.
Ich atmete tief durch. »Das bleibt unter uns, okay?« »Ich schwöre«, sagte Jimmy.
»Nein«, sagte ich. »Sie wurde nicht ans Bett gefesselt.« »Dacht ich mir«, sagte Jimmy.
»Aber erzähl’s nicht weiter. Ich verlass mich wirklich auf dich.«
»Ich erzähl’s nicht weiter.« Er fragte nicht,
wieso denn nicht.
Er wusste, wenn alle wüssten, dass Lucerne nur Mist verzapft hatte, wüssten auch alle, dass sie gar nicht entführt worden war, sondern meinen Vater einfach nur nach Strich und Faden betrogen hatte. Dass sie es aus Liebe getan hatte oder wegen Sex. Und dass sie nur deswegen zu ihrer Niete von einem Ehemann bei HelthWyzer zurückgekommen war, weil der andere Typ sie abserviert hatte. Aber lieber wäre sie gestorben, als das zuzugeben. Lieber hätte sie einen Mord begangen.
*
Während dieser ganzen Zeit ging ich immer wieder in meinen Kleiderschrank, holte das lila Handy aus meinem Tiger und telefonierte mit Amanda. Per SMS machten wir eine Zeit aus, und wenn die Verbindung gut war, konnten wir uns auf dem Display sehen. Ich fragte sie immer ganz viel über die Gärtner aus. Amanda erzählte, dass sie jetzt nicht mehr bei Zeb wohnte − Adam Eins sagte, sie sei jetzt fast erwachsen und müsse in einer der Einzelkabinen schlafen, was ziemlich öde sei. »Wann kommst du denn zurück?«, fragte sie. Aber ich hatte keine Ahnung, wie ich von HelthWyzer hätte weglaufen können.
»Ich arbeite dran«, sagte ich.
Bei unserem nächsten Telefonat sagte sie: »Guck mal, wer hier ist.« Es war ein verlegen grinsender Shackie, und ich fragte mich, ob die beiden gerade Sex gehabt hatten. Es fühlte sich an, als hätte Amanda irgendwas Glitzerndes im Rinnstein gefunden, was eigentlich ich haben wollte, aber das war Quatsch, weil ich überhaupt nichts für
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