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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Vergleich damals gefiel mir nicht, aber trotzdem war was dran; denn Lucerne hatte aus Liebe zu Zeb diese SMS geschickt, und nebenbei hatte sie auch Amanda gerettet, was gar nicht ihre ursprüngliche Absicht gewesen war. Also hatte Adam Eins damals recht.
    Mein Kontakt zu Amanda war damit aber abgebrochen. Das machte mich sehr traurig.
    *
    Jimmy und ich machten immer noch zusammen Hausaufgaben. Manchmal, wenn andere in der Nähe waren, machten wir sie wirklich. Ansonsten nicht. Wir brauchten eine knappe Minute, um aus unseren Kleidern raus-und ineinander reinzufinden, und Jimmy ließ die Hände über meinen Körper gleiten und sagte, ich sei zart wie eine Sylphide − solche Ausdrücke gefielen ihm, nicht dass ich immer gewusst hätte, was sie bedeuten. Manchmal komme er sich vor wie ein Kinderschänder, sagte er. Einiges davon schrieb ich mir nachher auf, als wären es Weissagungen.
Jimmy ist so toll, er hat gesagt, dass ich eine Sifide bin.
Die Rechtschreibung war mir ziemlich egal, die Hauptsache war das Gefühl.
    Ich liebte ihn so sehr. Aber dann machte ich einen Fehler. Ich fragte ihn, ob er immer noch in Wakulla verliebt sei oder ob er mich liebte. Das hätte ich nicht tun dürfen. Er zögerte viel zu lange, und dann fragte er, ob es irgendeine Rolle spielte. Ich wollte ja sagen, sagte aber stattdessen nein. Dann zog Wakulla Price an die Westküste, und Jimmy war schlecht drauf und verbrachte wieder mehr Zeit mit Glenn als mit mir. Das war also die Antwort, und sie machte mich sehr unglücklich.
    Trotzdem hatten wir immer noch Sex, wenn auch nicht sehr oft − der Abstand zwischen den roten Herzen in meinem Tagebuch wurde immer größer. Dann sah ich Jimmy zufällig in der Passage mit einem sehr vulgären älteren Mädchen namens LyndaLee, die angeblich alle Jungs auf der Schule vernaschte, einen nach dem anderen, wie Sojanüsse. Jimmy hatte die rechte Hand auf ihrem Arsch, und dann zog sie seinen Kopf zu sich runter und küsste ihn. Es war ein langer nasser Kuss. Wenn ich mir die beiden zusammen vorstellte, wurde mir schlecht, und mir fiel wieder ein, was Amanda mal über Krankheiten gesagt hatte, und ich dachte: Was immer LyndaLee hat, habe ich auch. Und ich ging nach Hause, übergab mich und weinte, und dann legte ich mich in meine große weiße Badewanne und nahm ein warmes Bad. Es war aber kein großer Trost.
    Jimmy hatte keine Ahnung, dass ich über ihn und LyndaLee Bescheid wusste. Ein paar Tage später fragte er, ob er vorbeikommen könne wie immer, und ich sagte ja. Ich notierte in mein Tagebuch:
Jimmy, du neugieriges Miststück, ich weiß, dass du das liest, ich hasse es, nur weil wir gefickt haben, heißt das noch lange nicht, dass ich dich mag, also FINGER WEG!
Hasse
war zweimal,
Finger
weg
dreimal rot unterstrichen. Das Tagebuch ließ ich auf meiner Kommode liegen. Was man schrieb, konnten Feinde gegen einen verwenden, dachte ich, aber umgekehrt ging es genauso gut.
    Nach dem Sex duschte ich allein, und als ich aus der Dusche kam, las Jimmy in meinem Tagebuch und wollte wissen, warum ich ihn auf einmal hasste. Also sagte ich es ihm. Ich sagte Sachen, die ich noch nie laut ausgesprochen hatte, und Jimmy sagte, er sei nicht der Richtige für mich, er könne sich wegen Wakulla Price auf niemanden einlassen, sie habe einen emotionalen Mülleimer aus ihm gemacht, aber vielleicht sei er ja von Natur aus destruktiv, denn jedes Mädchen, das er anrühre, sei am Ende verkorkst. Wie viele das genau gewesen seien, fragte ich. Ich konnte es nicht ertragen, einfach in einen großen Korb voller Mädchen geworfen zu werden wie Pfirsiche oder Steckrüben. Dann sagte er, er finde mich als Person total nett, und das sei auch der Grund, warum er ehrlich zu mir sei, und ich sagte, verpiss dich. Wir trennten uns also im Schlechten.
    Die Zeit danach war sehr düster. Ich fragte mich, was ich überhaupt auf dieser Welt verloren hatte: Niemanden würde es kümmern, wenn ich nicht mehr hier wäre. Vielleicht sollte ich das, was Adam Eins immer sterbliche Hülle genannt hatte, abstreifen und mich in einen Geier oder einen Regenwurm verwandeln. Aber dann musste ich wieder an das denken, was die Gärtner gepredigt hatten:
Ren, dein Leben ist ein kostbares Geschenk, und wo ein Geschenk, da ein Schenkender, und wer etwas geschenkt bekommen hat, sollte sich immer dafür bedanken. Das half etwas.
    Ich konnte auch Amandas Stimme hören: Wieso lässt du dich so hängen? Liebe ist nie ein fairer Tausch. Jimmy hat genug von dir, na

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