Das Jahr der Kraniche - Roman
deutlich sanfter ausgefallen, wenn sie einen Job gehabt hätte. Er hatte zwar nicht darüber geredet, aber er wusste, dass in der Medizin für heftige Schwangerschaftsübelkeiten durchaus auch psychische Ursachen verantwortlich gemacht wurden. Und vielleicht hätte es ihr wirklich gut getan, nicht immer nur im Jägerhaus zu sein und daran zu denken, dass sie ein Kind bekam, sondern einfach einem ganz normalen Job nachzugehen, der sie forderte und ihr nicht die Zeit ließ, sich darüber Gedanken zu machen, was jetzt alles auf sie zukommen würde.
Merkwürdig war das schon, dass Elke vergessen hatte, ihm von Lauras Plänen zu berichten. Normalerweise war sie außerordentlich zuverlässig. Hatte sie es ihm vielleicht nicht gesagt, weil sie verhindern wollte, dass er und Laura sich täglich sahen? Aber das würde ja bedeuten, dass sie gewusst hatte… Er zwang sich, den Gedanken nicht zu Ende zu denken. Er war sich sicher, dass Elke keine Ahnung hatte, was mit ihm vor zehn Jahren geschehen war.
Die Untersuchung ergab, dass es Laura und dem Baby hervorragend ging. Die letzten Monate der Schwangerschaft würde sie nun mühelos überstehen.
»Ich muss dich jetzt doch noch etwas fragen, Marius. Julia– war sie eigentlich schwanger, als sie Jan verlassen hat?«
Marius sah sie verblüfft an. Wieso wollte sie das wissen?
»Ich… ich kannte sie nicht sehr gut. Und meine Patientin war sie auch nicht. Aber ich glaube, wenn sie schwanger gewesen wäre, hätten die Leute darüber geredet. Zumindest Elke hätte mir etwas davon gesagt. Sie war ja mit Julia befreundet.«
Er schüttelte den Kopf. Nein, Julia war nicht schwanger gewesen. Heute dachte er, leider war sie nicht schwanger gewesen. Denn dann wäre vielleicht alles anders gekommen.
Die Männer hörten im Unterholz ein wütendes Schnauben.
Sie sahen einander an. Das war ein Wildschwein. Vermutlich eine Bache mit Jungen. Ein einzelnes Schwein wäre längst im Wald verschwunden, als die Männer mit den Baumschösslingen anrückten, um sie in dem Streifen Lichtung zu setzen, der entstanden war, als eine Windhose Hunderte von alten Eichen zu Fall gebracht hatte. Die Männer standen reglos da und lauschten dem Geräusch, das durchaus bedrohlich war. Meist war es relativ ungefährlich, einem Wildschwein zu begegnen, denn normalerweise hätte das Tier kein Interesse an einem Zusammenstoß mit einem Menschen gehabt und sich, kaum dass es einen gesehen hatte, eilig davongemacht, doch das Aufeinandertreffen mit einer Bache, die Frischlinge führte, konnte durchaus lebensgefährlich sein. Shadow, der unter einem Busch in der Sonne lag und schlummernd darauf wartete, dass die Männer irgendwann ihre Arbeit beenden würden, schoss plötzlich hoch und raste bellend in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Und tatsächlich, aus dem dichten Farn stand eine Bache auf. Kurz äugte sie zu dem bellenden Hund, dann galoppierte sie davon, drei gestreifte Schweinchen eilig hinter ihr her.
Jan und Hanno riefen Shadow zurück. Doch dieses Mal hatte ihn der Jagdinstinkt fest in seinen Fängen. Er sah und hörte nichts mehr und verschwand japsend und fiepend vor Jagdeifer im Zwielicht des Waldes.
»Verdammt! Shadow, hierher! Shadow!«
Doch der Hund hörte nicht. Sein Bellen wurde immer leiser, je weiter er sich entfernte. Hanno lief dem Hund hinterher, während Jan und die anderen Männer weiter die Schösslinge pflanzen wollten. Sie wussten, dass der Hund, wenn er die Spur der Bache verloren hatte, dorthin zurückkehren würde, wo er losgerannt war.
Hanno hastete durch den Wald. Es war heiß, er kam schnell außer Atem. Weit vor sich hörte er den Hund.
Dieser verdammte Kerl! Er hatte Angst, dass Shadow die Bache in die Enge trieb und sie sich mit ihren Hauern gegen ihn wehrte. Gegen das wütende Wildschwein würde der Hund keine Chance haben. Er musste ihn bremsen, bevor es zum Schlimmsten kam. Er rief und pfiff, doch der Hund machte keine Anstalten, zu ihm zurückzukehren. Immer tiefer gerieten sie in den Wald. Längst hatte Hanno die Sandwege verlassen und kämpfte sich durch das dichter werdende Strauchwerk. Die Äste der Büsche schlugen ihm ins Gesicht, Blut rann von einem Kratzer auf seiner Stirn in seine Augen. Er blieb stehen, um sich mit einem Taschentuch über das Gesicht zu wischen, und dabei nahm er die Stille wahr, die plötzlich um ihn herum herrschte. Das Bellen des Hundes war verstummt. Das konnte zweierlei bedeuten: Entweder hatte er den Kampf gegen die Bache
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