Das Jahr der Kraniche - Roman
hatten sich schwarze Ringe gebildet. Ihre Lippen waren vom ständigen Übergeben rissig.
»Ach, die Jette, die selbst nie ein Kind gehabt hat. Die muss es ja wissen.«
Es war Jan überhaupt nicht recht gewesen, dass Jette, die sich inzwischen von dem kleinen Schlaganfall, den sie im Wald erlitten hatte, einigermaßen erholt hatte, immer wieder von Mike im Rollstuhl an Lauras Krankenbett geschoben worden war. Er war einmal dazugekommen, als Jette Lauras Hand fest umklammert und sie angefleht hatte wegzugehen.
»Du bist nicht sicher hier. Und dein Baby auch nicht. Du musst weggehen, Laura. Geh weg von hier.«
Er hatte die Furcht in Lauras Augen gesehen. Und dann hatte er sich einfach Jettes Rollstuhl gegriffen und sie zurück in ihr Zimmer geschoben. Mike hatte er angewiesen, Jette nicht mehr zu Laura zu bringen, die nun wirklich keine Aufregung vertragen würde. Als er sich von der alten Frau verabschieden wollte, hatte sie sich an seinen Arm geklammert.
»Bring sie weg, Jan. Sie ist hier nicht sicher. Es wird ihr ein Unglück geschehen. Wie Julia.«
Er hatte sie brüsk weggeschoben und sie angefahren, dass sie endlich mit diesem Blödsinn aufhören solle. Dann war er gegangen. Jettes Schreie hatten durch die Gänge geklungen, bis er das Heim hinter sich gelassen hatte.
»Es ist mir völlig egal, ob es ein Mädchen oder ein Junge wird. Das weißt du.« Seine Stimme klang sanft, als er sie sorgsam zudeckte. »Hauptsache, es ist gesund.«
Sie nickte und schloss die Augen. Er hatte ja recht. Sie hörte, wie er leise die Tür hinter sich schloss, und schon hatte sie die Augen wieder offen. Sie wollte nicht mehr einschlafen, nicht mehr in diese Träume versinken. Sie wollte sich endlich aus vollem Herzen auf ihr Baby freuen können.
Eigentlich hatten Elke und Marius im August wie jedes Jahr für drei Wochen wegfahren wollen. Dieses Mal hatten sie vorgehabt, nach Kanada zu fliegen. Sie wollten mit einem Mietwagen einmal das Land von Ost nach West durchqueren und anschließend noch ein paar Tage in New York verbringen– die perfekte Verbindung zwischen Natur und Großstadt. Elke, die noch nie in Übersee gewesen war, hatte sich voller Elan auf die Vorbereitung der Reise gestürzt. Sie liebte es, ihre Trips bis aufs I-Tüpfelchen genau zu planen. Die Flüge und der Mietwagen waren längst gebucht, auch das Hotel in New York, lediglich die Übernachtungen in Kanada wollten sie sich offenhalten: Dort, wo es ihnen gefiel, würden sie einfach bleiben.
Die Sonne glitzerte auf dem See. Bienen summten in den Blumenbeeten, hin und wieder flog von der Insel das aufgebrachte Geschrei der Kranichjungen herüber, die zwar das Nest schon verlassen zu haben schienen, sich aber immer noch gern von ihren Eltern füttern ließen. Elke lächelte, als sie zu der Insel hinübersah. Seit sie es vor vielen Jahren durchgesetzt hatte, dass die Insel von niemandem mehr betreten werden durfte, hatten sich jedes Jahr mehr Kraniche eingefunden, um auf der Insel, auf die kein Feind sich verirren würde, zu nisten. Morgens und abends flogen die Altvögel auf, um sich auf den Wiesen den Bauch vollzuschlagen und Futter für ihre Jungen zu suchen.
Elke hatte Marius noch nichts von ihren Überlegungen mitgeteilt. Sie dachte seit ein paar Tagen darüber nach, dass sie eigentlich gar nicht in Urlaub fahren wollte. Nicht in so einem herrlichen Sommer. Seit mehr als vier Wochen herrschte hier schönstes Wetter, und die Vorhersage sah auch nur schöne Tage bis hinein in den September vor.
Wieso muss man wegfahren, wenn es hier doch auch so herrlich ist?
Aber Marius brauchte diese regelmäßigen Auszeiten, in denen er ganz weit weg von seinen Patienten sein konnte. Er schuftete so viel, dass er einen Tapetenwechsel dringend nötig hatte. Nur an einem Ort, der weit weg war von seinem Alltag, konnte er wieder zu Kräften kommen. Sie verstand das natürlich. Er brauchte andere Eindrücke, brauchte eine Zeit, in der niemand etwas von ihm wollte.
»Sag mal, meinst du nicht, wir sollten unseren Urlaub verschieben?«
Marius kam in den Garten, um sich für den Tag zu verabschieden. Seit sie Ferien hatte, war Elke immer schon ganz früh auf und pusselte in ihren Gemüsebeeten herum. Sie liebte es, morgens, wenn noch Tau auf dem Rasen lag und die Luft noch klar und frisch war, die Möhren und die dicken Kohlrabiköpfe zu ernten, den Mangold und den Rhabarber zu schneiden und den Salat für das Mittagessen.
»Hast du keine Lust mehr auf Kanada?«
»Das
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