Das Jahr der Kraniche - Roman
verloren, oder er hatte die Jagd aufgegeben und lief schon wieder zurück zu seinem Herrchen. Wieder rief Hanno nach dem Hund. Atemlos ging er weiter. Und jetzt hörte er ein Winseln. Er erschrak. Vielleicht war der Hund verletzt.
»Shadow! Wo bist du? Shadow?«
Das Winseln hörte nicht auf. Hanno folgte dem Geräusch vorsichtig. Es war ja nicht gesagt, dass das aufgebrachte Wildschwein nicht noch in der Nähe war. Mücken fielen in dichten Schwärmen um ihn her. Das Moor! Er hatte nicht bemerkt, dass er sich mitten im Moor befand. Vorsichtig suchte er sich einen Weg durch den feuchten Untergrund. Er hört ein leises Platschen, und dann sah er den Kranich, der wie ein grauer Geist zwischen den Bäumen herumstakste. Der Vogel hielt inne und reckte den Hals in die Höhe. Ruckartig wandte er den Kopf in Hannos Richtung. Wieder war das Winseln zu hören. Hanno sah jetzt auch Shadow und erkannte auf den ersten Blick, dass der Hund nicht verletzt war. Er stand wie angewurzelt auf einer Schilfinsel mitten im Moor. Sein Winseln klang jämmerlich. Hanno watete durch das Wasser auf ihn zu. Der Hund zitterte am ganzen Körper und starrte in die kühle Finsternis vor ihm.
»Shadow. Es ist alles in Ordnung. Jetzt komm, wir gehen nach Hause.«
Der Hund zeigte mit keiner Regung, dass er Hanno wahrgenommen hatte. Das Winseln wurde zu einem leisen Knurren. Die Nackenhaare des Hundes stellten sich auf. Hanno lauschte in die Stille, die nur unterbrochen wurde von dem Geräusch, das ein Laubfrosch machte, der sich hüpfend durch das Nass bewegte. Sie mussten hier weg. Er griff nach Shadows Halsband, wollte den Hund mit sich ziehen. Doch der blieb stocksteif stehen. Das Knurren wurde bedrohlich.
»Da ist nichts, Shadow. Nur ein paar Frösche und der Kranich. Das wird dir doch wohl keine Angst machen. Jetzt komm mit mir.«
Er streichelte die bebende Flanke des Hundes.
»Komm, mein Großer, es ist alles in Ordnung. Wir haben hier nichts verloren.«
Schließlich gelang es ihm, den Hund mit sich zu ziehen. Er hielt ihn fest am Halsband. Erst einige hundert Meter weiter spürte er, wie sich die Anspannung des Hundes löste.
Früher, als er ein kleiner Junge gewesen war, hatte er das Moor geliebt. Tagelang war er, obwohl sein Vater es ihm verboten hatte, durch das dunkle Wasser gewatet, in dem die Bäume standen, hatte Frösche und Kröten gefangen und die Vögel beobachtet, die im verschwiegenen Dämmerlicht wohnten. Sein Schönstes aber war es gewesen, die Geisterkraniche zu beobachten, die – weil sie die Schwungfedern in der Mauser verloren und deswegen eine Zeit lang flugunfähig waren– den Schutz des Moores suchten, wo sie sich vor ihren natürlichen Feinden verstecken konnten. Lautlos tauchten sie zwischen den Bäumen auf und verschwanden ebenso schnell wieder, wie sie erschienen waren. Das Betreten des Moores war schon seit vielen Jahren verboten. Die Natur konnte sich hier ganz ungestört entwickeln. Für den kleinen Hanno war es immer ein wundersam verzauberter Ort gewesen, dessen Geheimnisse man nicht entschlüsseln konnte. Das schlimmste Geheimnis aber, das das Moor seit vielen Jahren barg, jagte Hanno einen Schauder über den Rücken. Er betete jede Nacht seines Lebens, dass es nie entdeckt werden würde. Der Hund hatte es gespürt. Instinktiv hatte er begriffen, dass etwas Schreckliches im Moor verborgen lag. Es war kein Wunder, dass er so verstört reagiert hatte.
2
Marius hatte unrecht, fand Elke: Laura würde keine gute Mutter sein. Sie war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Dauernd war irgendwas. Erst diese Übelkeit, die natürlich viel heftiger sein musste als bei allen anderen Frauen. Und kaum ging es ihr wieder besser, hatte sie nun plötzlich Magenkrämpfe. Es war klar: Sie wollte, dass sich alle um sie kümmerten. Sie und Jan und natürlich auch Marius, der inzwischen ja schon im Jägerhaus zu wohnen schien, so oft sah er nach Laura. Sogar auf seinen wohlverdienten Urlaub verzichtete er freiwillig, nur damit diese Diva nicht ohne ärztliche Betreuung wäre.
»Nimm noch einen Schluck von dem Smoothie. Er wird dir gut tun.«
Wie sie das Glas ansah! Als würde sie sich davor ekeln. Dabei hatte Elke sich solche Mühe gegeben. Hatte Bärlauch im Wald gesammelt, Petersilienwurzel ausgegraben, frisches Basilikum in Templin besorgt. Das alles hatte sie im Mixer mit einer Banane und einer halben Ananas verquirlt. Etwas Gesünderes gab es nicht. Sie trank es doch auch, wenn sie sich mal schwächlich
Weitere Kostenlose Bücher