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Das Jahr der Kraniche - Roman

Das Jahr der Kraniche - Roman

Titel: Das Jahr der Kraniche - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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habe«, flüsterte sie an seinen Lippen. Ihre Zunge fuhr über seine Zähne, drängte sich tief in seinen Mund. Sie schob ihre knochigen Hüften gegen seinen Bauch.
    »Wollen wir schwänzen? Und den ganzen Tag im Bett verbringen?«
    Ihr Atem ging stoßweise. Sie versuchte, ihm das Jackett auszuziehen.
    »Hallo, was ist denn mit dir los? Meine Praxis quillt über. Und wenn ich mich nicht irre, schreiben deine Zehntklässler heute Klausur.«
    Sofort trat sie einen Schritt zurück und verzog die Lippen zu einem Schmollmund.
    »Du liebst mich nicht mehr. Früher wärst du auf so ein Angebot, ohne nachzudenken, eingegangen.«
    »Genau, das ist es. Ich liebe dich nicht mehr. Jetzt komm, kleiner Dummkopf, wir müssen los. Sonst rennen mir meine Patienten weg. Und deine Schüler machen Party.«
    Er griff sich den Autoschlüssel, der zwischen anderen Schlüsseln und Visitenkarten und sonstigem Kram in einer großen silberfarbenen Blechschale lag, die sie aus einem Urlaub in Marokko mitgebracht hatten, und öffnete die Tür.
    »Raus mit dir, du Schulschwänzerin.«
    Sie warf ihm einen verliebten Blick zu, griff im Vorbeigehen an seinen Hintern und ging ihm voraus auf den blauen SUV zu, den sie sich vor zwei Jahren geleistet hatten. Er schloss die Tür und sah ihr einen Moment nach, bevor er ihr folgte.
    Ein maues Gefühl stieg in ihm auf. Irgendetwas stimmte nicht. Er konnte nur nicht sagen, was.
    Die Umzugsleute hatten Lauras Kisten und ihre paar Möbel in der Halle abgestellt. Jan hatte eigentlich vorschlagen wollen, dass Lauras Sachen zunächst einmal in die Garage gestellt werden sollten.
    »Leb dich doch erst mal ein. Und dann kannst du entscheiden, welche von deinen Sachen du wirklich brauchst und wo du sie hinstellen willst«, hatte er sagen wollen.
    Doch als er Lauras kindliche Freude sah, mit der sie ihren alten Sessel und den kleinen Tisch und jede einzelne ihrer Kisten begrüßte wie lang vermisste Freunde, hatte er sich seinen Vorschlag verkniffen. Es war ja normal, dass sie ihre Sachen um sich haben wollte. Auch wenn er keine Ahnung hatte, wie sich ihre Flohmarktfunde neben den edlen Antiquitäten, mit denen schon seine Eltern das Haus vollgestellt hatten, und den paar ausgefallenen Designermöbeln, die er gekauft hatte, ausmachen würden.
    »Der Sessel kommt ins Wohnzimmer, und den kleinen Tisch und den goldenen Spiegel will ich in meinem Zimmer haben.«
    Sie hielt inne, sah ihn an.
    »Ich meine, ich darf doch ein Zimmer für mich haben? Oder findest du das unbescheiden?«
    Sie riss die dritte Kiste auf, holte eine kitschige kleine Tischlampe heraus, deren Fuß aus einer nachgemachten Jugendstilnymphe bestand, die mit erhobenem Arm ein Schirmchen aus roter Kunstseide hochhielt.
    »Oder möchtest du das hier vielleicht im Schlafzimmer stehen haben?«
    Sie grinste und drückte die Lampe an sich. Sie wusste, dass es sich um eigentlich unerträglichen Kitsch handelte. Aber sie fand, ein bisschen Kitsch brauche der Mensch, um seine heimlichen Sehnsüchte nach einer heilen Welt zu befriedigen.
    Jan ließ seinen Blick über das Chaos aus Möbeln, aufgerissenen Kisten, Bücherstapeln, die sie schon auf die Treppe gestellt hatte, ihre Hüte, die sie unverfroren in die Geweihsammlung seines Urgroßvaters drapiert hatte, und die bunten Küchenutensilien, die auf der kostbaren Anrichte aus dem siebzehnten Jahrhundert aufgetürmt waren, schweifen.
    Ein Feuer, dachte er, e in Feuer wäre die beste Lösung.
    »Du findest es schrecklich, gib’s zu. Dir wär ’ s am liebsten gewesen, wenn ich alles weggeworfen hätte.«
    Natürlich wäre ihm das am liebsten gewesen. Er hatte sich noch nie für derart billiges Zeug, noch dazu in krachbunten Farben, begeistern können. Selbst seine Studentenwohnung hatte Stil gehabt mit den wenigen ausgefallenen Möbelstücken, die er sich geleistet hatte.
    »Blödsinn. Das sind deine Sachen. Und du kannst sie hinstellen, wo du willst. Und ein eigenes Zimmer wirst du natürlich auch haben. Ich dachte an das linke Terrassenzimmer. Was meinst du?«
    »Das Musikzimmer? Aber da steht schon der Flügel. Für meine Sachen ist da doch überhaupt kein Platz.«
    »Der Flügel kommt natürlich heraus. Und wenn du willst, auch die Regale und die Sitzgruppe. Ich werde Hanno sagen, dass er es leer machen soll. Und dann kannst du damit machen, was du willst.«
    Als Kind war ihm das Musikzimmer der liebste Ort im ganzen Haus gewesen. Er hatte unter dem Flügel gesessen, wenn seine Mutter nach der Teestunde

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