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Das Jahr der Kraniche - Roman

Das Jahr der Kraniche - Roman

Titel: Das Jahr der Kraniche - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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darauf gespielt hatte, hatte in ihren Kunstbänden geblättert oder mit dem Architekturbaukasten gespielt, den sie ihm zum sechsten Geburtstag geschenkt hatte. Und als er älter war, hatte er dort mit seiner Mutter jeden Nachmittag gegen fünf einen Aperitif genommen, bei dem sie über Ausstellungen plauderten, von denen sie gelesen hatte, oder über Opernaufführungen, die sie so gern besucht hätte. Sein Vater war immer ein bisschen eifersüchtig gewesen auf die vertraute Atmosphäre, die zwischen seiner Frau und seinem Sohn geherrscht hatte, das hatte Jan gespürt. Aber seine Mutter hatte auf dieser »blauen Stunde«, wie sie es genannt hatte, bestanden.
    »Der Mensch braucht seine kleinen Fluchten«, hatte sie gesagt. Jan hatte lange nicht verstanden, was sie damit meinte. Erst als er nach ihrem Tod in ihren Tagebüchern las, wie wenig sie sich von seinem Vater verstanden gefühlt hatte, der sich in seiner polterigen Art immer lustig gemacht hatte über ihren Hang zu Kunst und Kultur, ahnte er, wie wichtig es ihr gewesen war, sich in ihrem Sohn einen gleich gesinnten Gesprächspartner heranzuziehen. Der so wie sie Freude an Musik und Malerei hatte.
    »Wir finden bestimmt auch ein anderes Zimmer für mich.« Laura spürte instinktiv, wie sehr Jan gerade an diesem Zimmer hing. Sie hatte seinen Blick gesehen, als er es ihr gestern gezeigt hatte. Hatte gesehen, wie vorsichtig er den Flügel berührte. Hatte die Wehmut wahrgenommen, die in seinen Augen lag, als er ein paar Töne auf dem Instrument anschlug. Es war eine besondere Atmosphäre in dem Zimmer, das hatte sie gespürt. Auch wenn ihr Jan nichts von seinen Erinnerungen erzählt hatte, war ihr klar, dass sie in diesem Zimmer nichts verloren hatte.
    Vielleicht war es ja doch keine gute Idee gewesen, hierherzukommen. Das Haus ist voller Erinnerungen, die nichts mit mir zu tun haben.
    » Das Haus ist kein Museum, Laura. Auch wenn es dir vielleicht so vorkommen mag. Wir werden uns unsere eigenen Erinnerungen schaffen.«
    Ja, das würden sie. Jeder Tag, den sie hier miteinander verbrachten, würde eine neue Erinnerung kreieren. Jedes Wort, das sie miteinander sprachen, jeder Blick, den sie austauschten, jeder Kuss, den sie sich gaben, jede Umarmung, in die sie versanken. Und mit jedem neuen Tag würden die alten Erinnerungen ein wenig mehr verblassen. Er liebte Laura. Auch, weil sie nichts von ihm wusste. Weil sie nichts mit seinem alten Leben zu tun hatte. Weil sie die Vergangenheit vergessen und die Gegenwart zu einem unbeschwerten, lebendigen Spiel machen würde. Sie hatte sich ohne Vorbehalt auf ihn eingelassen. Voller Vertrauen, dass er genauso unbefangen und neugierig ihrer gemeinsamen Zukunft entgegenging. Sie hatte sich ohne Furcht und ohne Bedauern von ihrem alten Leben verabschiedet, entschlossen, mit ihm das zu erleben, was sie für Glück hielt.
    Ihre Stimme drang wie von weit her an sein Ohr und riss ihn aus seinen Gedanken.
    »Komm, wir sehen mal nach, ob es irgendwo eine Abstellkammer für mich gibt.«
    Sie drückte den Rücken durch, reckte das Kinn, ihre Augen strahlten ihn an.
    »Wie du weißt, bin ich in der Lage, aus der letzten Rumpelkammer so was wie eine Puppenstube zu machen. Wir werden schon etwas finden, in dem ich mich austoben kann.«
    Diese Entschlossenheit, aus allem das Beste zu machen, diese unbedingte Sicherheit, dass alles gut war, so, wie es war! Laura nahm Jan an der Hand und zog ihn hinter sich die Treppe hinauf.
    »Ich hab von unten gesehen, dass neben dem Schlafzimmer noch ein Raum ist. Ein Eckzimmer mit Fenstern in zwei Richtungen. Komm, ich will es mir ansehen. Vielleicht ist das ja das Richtige.«
    Jan blieb mit einem Ruck stehen.
    »Das Eckzimmer?«, stieß er hervor. »Tut mir leid, das ist vollkommen ungeeignet.«
    »Lass es mich doch erst mal ansehen. Ich wollte schon immer so ein Zimmer haben, bei dem die Fenster über Eck…«
    »Hast du mich nicht verstanden? Nicht dieses Zimmer, Laura.«
    Was war das denn? Diese Härte in seiner Stimme. Und der Griff seiner Hand, der sich plötzlich wie eine Fessel anfühlte.
    »Du tust mir weh.«
    Sofort ließ er ihre Hand los. Sein erschrockener Blick traf sie ins Herz.
    »Tut mir leid. Das wollte ich nicht. Es ist nur… dieses Zimmer… Die Fenster sind nicht dicht. Es zieht darin wie Hechtsuppe. Noch dazu ist es immer ein wenig feucht. Du würdest dir sofort den Tod holen.«
    Seine Stimme klang gepresst. Vollkommen anders, als sie es je erlebt hatte. Sein Lächeln erreichte

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