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Das Jahr der Kraniche - Roman

Das Jahr der Kraniche - Roman

Titel: Das Jahr der Kraniche - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Wohnzimmer war auch niemand.
    »Wo sind Sie?«
    In der Küche war auch niemand. Nur der Wasserhahn tropfte vor sich hin. Der Hund kam in die Küche und sah sie mit verschlafenen Augen an, als wollte er fragen, was für ein merkwürdiges Spiel das sei mitten in der Nacht.
    »Du hast es doch auch gehört, Shadow? Die Frau. Wir müssen ihr helfen.«
    Aber wo war sie? Wo war diese Frau, deren Stimme so abgrundtief verzweifelt geklungen hatte?
    »Komm, wir müssen sie finden.«
    Vielleicht hatte sie sich verletzt. Vielleicht war sie krank. Vielleicht… Das Blut rauschte in Lauras Ohren. Die Kälte der Nacht kroch in ihr hoch. Als sie den Schatten sah, der an der Küchentür vorbeihuschte, rannte sie in die Halle. Aber auch hier war kein Mensch, alles war wie immer. Hatte sie sich das alles nur eingebildet? Die Stimme, den Schatten, den Atem an ihrer Wange? Sie war doch nicht verrückt. Konnte es sein, dass ihr hier irgendjemand einen Streich spielen wollte? Aber wer sollte das tun? Hanno?– Lächerlich? Elke?– Unvorstellbar. Sie setzte sich auf einen Stuhl, schlang die Arme um sich und versuchte sich zu beruhigen. Und dann sah sie es. Auf dem kleinen Tisch neben der Haustür, auf dem sie ihre Schlüssel ablegte und die Post, stand es. Ein kleines Fläschchen Shalimar. Entsetzen ergriff sie. Das Fläschchen hatte genau die gleiche Form wie das, das sie in ihrer ersten Nacht im Badezimmer hatte fallen lassen. Nicht die moderne Form, in der das Parfum heutzutage verkauft wurde. Diese Form war schon lange nicht mehr im Handel. Sie kannte sie von Fotografien und aus alten Filmen.
    Wahrscheinlich steht es schon die ganze Zeit da, und ich hab ’ s nur nie bemerkt.
    Sie versuchte, sich mit rationalen Begründungen zu beruhigen.
    Blödsinn. Es wäre mir doch auf den ersten Blick aufgefallen.
    Hatte sie jetzt auch noch optische Halluzinationen? Vielleicht war das ja alles ein Traum, aus dem sie nicht aufwachen konnte. Doch sie fühlte die Kälte des Steinfußbodens unter ihren nackten Füßen, als sie auf das Tischchen zuging, und die würde sie nicht spüren, wenn sie träumte. Nein, ganz eindeutig war sie wach. Und da war dieses Parfumfläschchen. Sie griff danach. Das Licht erlosch. Und sie hörte das Klirren. Bevor sie das Fläschchen ergreifen konnte, war es zu Boden gefallen. Der intensive Duft verbreitete sich auf der Stelle. Jetzt spürte sie den festen Griff an ihrem rechten Arm, und nichts hielt sie mehr. Sie stürzte zur Tür, riss sie auf und rannte blind vor Angst und Horror in die Dunkelheit.
    Da war jemand. Eine Frau. Und die war hinter ihr her. Sie hörte ihren keuchenden Atem, jetzt griff sie wieder nach ihr. Laura stieß gegen einen Blumenkübel, strauchelte, rappelte sich wieder hoch. Sie musste weg hier. Die Panik jagte sie den Sandweg hinunter. Stolpernd versuchte sie nach Kräften, in dem weichen Untergrund nicht den Halt zu verlieren. Wenn es nur nicht so dunkel gewesen wäre. Wenn sie sich den Weg, der sich in der Nacht als eine Reihe von Fallen aus tiefen Löchern und Wurzeln erwies, doch nur besser eingeprägt hätte. Sie sah die tiefe, vom Regen ausgewaschene Mulde nicht. Ihr rechtes Bein knickte ein. Mit einem Aufschrei ging sie zu Boden. Panisch griff sie nach einem Halt. Sie durfte nicht fallen, nicht hier liegen bleiben. Ihre Verfolgerin war dicht hinter ihr.
    »Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.«
    Maike Emmerlich drückte Marius einen Korb mit Eiern, frischem Gemüse und einer Flasche Obstbrand, den sie und ihr Mann selber brannten, in die Hand. Wie immer, wenn er einen Krankenbesuch machte und mit den Dingen, die Haus und Hof hergaben, beschenkt wurde, wollte Marius sagen, dass das doch nicht nötig sei. Er war Landarzt, da war es sein Job, seine Patienten, die oft weit verstreut in der Gegend wohnten, auch zu Hause zu besuchen. Er machte das gern, auch wenn es Stunden zusätzlicher Arbeit vor und nach seiner Sprechstunde bedeutete. Aber auf diese Weise erfuhr er, wie seine Patienten lebten, er konnte sich ein wesentlich besseres Bild von ihrem Alltag machen, als wenn sie ihm nur in der Praxis davon erzählten. Er lernte ihren Alltag kennen, die anderen Familienmitglieder, die Haustiere. Er konnte erspüren, wie die Stimmung in dem jeweiligen Haushalt war. Details, die ihm halfen, die Krankheitsbilder, die er diagnostizierte, besser einordnen zu können. Manchmal setzte er sich auch noch eine halbe Stunde in die Küche und hörte einfach zu. Erfuhr von Geldnöten und von familiären

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