Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahr der Kraniche - Roman

Das Jahr der Kraniche - Roman

Titel: Das Jahr der Kraniche - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
Vom Netzwerk:
oder Marius…
    Aber das war doch alles an den Haaren herbeigezogen. Und überhaupt: Er war Fotograf und kein Polizist. Er sollte einfach bei seinen Leisten bleiben. Außerdem hatte er inzwischen fast alle Fotos zusammen, die er für seinen neuen Bildband brauchte. Bald würde er wieder wegfahren und das Jägerhaus mit seinen merkwürdigen Geschichten hinter sich lassen. Ebenso wie Laura. Und falls er in ein paar Jahren wieder hierherkommen sollte, dann würde er Lauras Kinder auf den Knien schaukeln und mit Jan Plathe eine gute Flasche Rotwein trinken. Alles ganz normal.
    Laura wagte es nicht, die Augen aufzuschlagen. Sie hatte nicht mehr als eine halbe Stunde geschlafen und sich, als sie aufgewacht war, vollkommen zerschlagen gefühlt. Als sie aufstehen wollte, um sich ein Glas Wasser zu holen, hatte der Raum sich sofort wieder um sie gedreht. Sie hatte sich zurück in die Kissen gelegt. Wieso war ihr nur so entsetzlich schwindlig und schlecht? Ein paar Mal hatte sie die Augen wieder geöffnet, doch selbst im Liegen drehte sich alles. Sie musste sich an der Bettkante festkrallen, weil sie das Gefühl hatte, dass sie im nächsten Moment aus dem Bett fallen würde. Alle Krankheiten, zu denen solche Drehschwindel gehörten, fielen ihr ein. Vielleicht hatte sie sich einen Nerv am Nacken eingeklemmt oder sich eine Innenohrentzündung zugezogen. Oder hatte sie gar einen Hirntumor? Sie hatte noch nie hypochondrische Anwandlungen gehabt, hatte bis jetzt auch immer von sich behauptet, dass sie unheilbar gesund war. Aber irgendeine Ursache musste ihr Unwohlsein doch haben. Sie hoffte, dass Jan nicht so schnell zurückkommen würde. Sie wollte nicht, dass er sie in diesem Zustand sah. Aber wieso eigentlich nicht? Er war ihr Mann. Er sollte wissen, wie es ihr ging. Wovor hatte sie Angst? Dass er sie verließ, wenn sie plötzlich mal nicht die starke Frau war, die er kennengelernt hatte?
    Blödsinn! Er würde sich Sorgen machen, würde, falls es nicht besser werden sollte, einen Arzt rufen oder sie ins Krankenhaus bringen. Ein erneuter Brechreiz erschütterte ihren Körper. Sie rollte sich aus dem Bett, kroch auf den Knien in Richtung Bad und übergab sich noch einmal. Doch dieses Mal spuckte sie nur noch den Tee, den Elke ihr gekocht hatte. So viel also zur Heilwirkung von Salbei und Thymian. Als sie sich im Spiegel sah, erschrak sie. Sie sah zum Fürchten aus, weiß wie ein Leintuch. Unter ihren Augen hatten sich fast schwarze Augenringe gebildet, die Lippen waren blutleer, und die Haare hingen ihr in verschwitzten Strähnen ins Gesicht. Sie wollte sich zurück ins Bett quälen, doch ein erneuter Würgereiz zwang sie wieder über die Kloschüssel.
    »Mami.«
    Sie hörte sich an wie ein kleines Mädchen. Wieso war ihre Mutter jetzt nicht da? Sie hatte ihr immer die Stirn gehalten, wenn es ihr als kleines Mädchen mal schlecht gewesen war. Sie hatte ihr mit einem feuchten Waschlappen das Gesicht gekühlt und ihr schließlich eine Cola-Schwarztee-Mischung eingeflößt, die den Magen beruhigen sollte (und es auch wirklich tat). Aber sie war kein kleines Kind mehr. Sie musste sich um sich selbst kümmern, wie das Erwachsene nun mal taten. Sie atmete flach und hektisch, fast keuchend. In ihren Ohren schrillte das hohe Lachen der Frau. Sie machte sich über sie lustig. Sie amüsierte sich darüber, dass Laura so klein und elend war.
    »Hau endlich ab. Lass mich in Ruhe. Ich hab nichts mit dir zu schaffen.«
    Sie schrie es in das Dämmerlicht, das sich über das Haus gesenkt hatte. Sie musste Licht machen, in die Küche gehen, sich Cola holen und Tee aufbrühen. Das Licht im Treppenhaus flammte kurz auf und erlosch sofort wieder. Laura klammerte sich am Treppengeländer fest. Tastend suchte sie sich ihren Weg nach unten. Ihre Beine gaben nach, bevor sie die Halle erreichen konnte. Sie sank auf der Treppe in sich zusammen. War das ihr Schluchzen, das sie da hörte? Es erfüllte die Halle und mischte sich mit diesem Lachen, das nun von überall her zu kommen schien.
    »Bitte. Ich weiß nicht, was du von mir willst. Wer bist du? Zeig dich doch. Bitte.«
    Ihre Stimme überschlug sich. Sie war eindeutig dabei, hysterisch zu werden.
    Jan wird mich einweisen lassen. Ich rede mit jemandem, der gar nicht da ist. Ich bin verrückt geworden.
    Plötzlich war es ihr klar. Sie musste hier weg. Sie musste dieses Haus so schnell wie möglich verlassen, sonst würde sie wirklich verrückt werden. Ihre Jacke– wo war die Jacke? Und die Tasche. Sie

Weitere Kostenlose Bücher