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Das Jahr der Kraniche - Roman

Das Jahr der Kraniche - Roman

Titel: Das Jahr der Kraniche - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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musste die Tasche mitnehmen. Ohne Geld und Ausweis würde sie nicht weit kommen. Sie richtete sich mühsam auf. Das Treppengeländer umklammernd tastete sie sich die letzten Schritte nach unten in die Halle. Die Jacke hing an einem Haken neben der Tür, die Tasche lag auf dem kleinen Tisch. Vor Anstrengung keuchend schlüpfte sie in den einen Ärmel der Jacke, dann musste sie innehalten, die Augen für einen Moment schließen.
    Tief durchatmen.
    Sie sog den Atem so tief wie möglich in sich ein, ließ ihn durch nur halb geöffnete Lippen wieder heraus. Einmal. Noch einmal. Jetzt der zweite Ärmel. Und jetzt die Tasche. Sie schob sich an der Wand entlang zur Haustür. In dem Moment, in dem sie sie öffnen wollte, hörte sie das Klopfen. Sie erstarrte. Das konnte nicht Jan sein. Er hatte einen Schlüssel. Hanno war mit Jan unterwegs, und Elke war doch gerade erst gegangen. Sie wollte erst morgen wieder nach ihr sehen. Die Gedanken rasten durch ihr Gehirn, während sie stillstand. Sie hielt den Atem an. Wer auch immer da draußen war– wenn sie sich nicht rührte, würde er denken, dass niemand zu Hause war.
    Sie sah, wie die Türklinke sich senkte. Er versuchte, ins Haus zu kommen. Oder sie? War es diese Frau? War es die Frau in dem roten Kleid, die vorher durch das Haus gehuscht war, die sich über sie lustig machte? Sie drückte sich an die Wand. Sie musste hier weg. Durch die Terrassentür würde sie fliehen können. Schritt für Schritt schob sie sich in Richtung Wohnzimmer, ließ aber dabei die Haustür nicht aus dem Blick. Jetzt wurde sie aufgedrückt. Irgendetwas würde passieren; sie hatte keine Chance mehr.
    »Laura?«
    Marius! O Gott, Marius war hier.
    »Ich bin hier.«
    Schon ging das Licht an.
    »Laura. Was ist denn los?«
    Er war bei ihr. Ihre Knie gaben endgültig nach. Bevor sie zu Boden fallen konnte, schlang er die Arme um sie. Er würde auf sie aufpassen. Er würde nicht zulassen, dass ihr etwas geschah.
    Jette Politschek hastete durch die Wiesen. Über ihr Nachthemd hatte sie einen dünnen Sommermantel gezogen, der ihr viel zu groß war, auf dem Kopf trug sie eine hellblaue Schiebermütze, an den Füßen zwei unterschiedliche Schuhe. Sie hatte nicht überlegt, was sie anziehen sollte, sondern war einfach losgelaufen. Der Mantel, er roch nicht nach ihr. Sie mochte den Geruch auch nicht, der in ihm hing. Der Heimleiter, der manchmal nach ihr sah, roch auch so, irgendwie streng, scharf, ein bisschen nach Putzmittel. Sie riss den Mantel auf und ließ ihn über die Schultern rutschen. Gut so. Jetzt fühlte sie sich besser. Sie lief weiter. Sie durfte nicht zu spät kommen. Die großen Vögel, die zwischen den Pferden nach Futter suchten, schlugen mit den Flügeln. Sie sahen argwöhnisch zu der Frau hin, die laut vor sich hin redend über die Koppel stolperte.
    »Ich darf nicht zu spät kommen. Mach dir keine Sorgen. Ich komme schon. Gleich bin ich bei dir.«
    Jette wusste, sie würde zu spät kommen. Aber sie konnte es nicht zulassen. Sie musste schneller sein als die Zeit, musste allen ein Schnippchen schlagen. Die Vögel formierten sich zu einer Reihe. Sie bogen die Hälse gegen den sternlosen Himmel, ihr Schrei drang in Jettes Herz. Sie würde sich nicht beirren lassen.
    »Aus dem Weg. Lasst mich durch.«
    Die Kraniche schnellten auf und nieder. Sie kamen immer näher. Sprangen auf Jette zu. Da, da waren die Krallen. Sie spürte sie auf ihren Armen, die sie schützend vor ihr Gesicht hielt.
    »Lasst mich. Lasst mich doch.«
    Die schwarzen Augen der Vögel blinkten kalt. Ihre Schnäbel, wieder die Krallen, die Flügel. Sie spürte das Blut über ihr Gesicht laufen. Sie waren zu viele. Sie waren zu viele…
    Mike rüttelte Jette wach.
    »Wach auf, Jette. Es ist alles gut.«
    »Die Vögel. Sie wollen mich nicht durchlassen. Ich komme zu spät. Ich kann sie nicht retten.«
    Keuchend stieß Jette die Sätze hervor. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Mike legte eine warme Jacke über Jettes Schultern.
    »Du bist hier zu Hause, Jette. Hier kann dir nichts passieren.«
    In den letzten Wochen waren Jettes Träume immer öfter gekommen. Und, wie es den Anschein hatte, auch immer heftiger. Fast jede Nacht mussten ihr die Pfleger helfen, aus dem Albtraum zu entkommen. Und es dauerte jede Nacht länger, bis die alte Frau sich beruhigen konnte.
    »Ich kann sie einfach nicht retten.«
    Ihre Stimme schrumpfte zu einem fast tonlosen Flüstern.
    »Es geht ihr bestimmt gut. Du musst dir keine Sorgen um Julia machen.

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