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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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real. Ich habe eine Woche gebraucht, um die Wahrheit zu begreifen; du mußt dich damit abfinden …«
    »Hau ab!« quiekte ich.
    Quiekte …? Mein Gott, ich klang ja wie Donald Duck. Ich rieb mir das Kinn und ertastete ein Gesicht, das klein, rund und mit einem drahtigen Fell bedeckt war.
    »Wie du willst«, erwiderte der Affe. Er spreizte seine vier Gliedmaßen, und die losen Hautfalten strafften sich, so daß das Wesen einem niedlichen, behaarten Drachen glich. Wie ein Kunstturner drehte es sich ein paarmal geschwind um seinen Ast, ließ dann los und segelte aus meinem Gesichtskreis.
    Vor Jahren hatte ich ein ähnliches Tier in einem Zoo gesehen. Einen fliegenden Lemuren mit einem exotischen Namen. Kobuga?
    Wieso träumte ich von einem Halbaffen?
    Aber warum eigentlich nicht?
    Ich kniff die Augen ganz fest zu.
     
    Aber die Welt wollte nicht verschwinden. Und langsam wurde es mir ungemütlich; ich lag auf etwas, das kratzte wie Stroh, und meine Waden fingen an zu jucken.
    Seufzend öffnete ich die Augen. Die aufgeblähte Sonne war immer noch da, eine Kuppel aus tosenden Flammen und finsteren Abgründen, die einer gigantischen Industrielandschaft ähnelte. Die dunklen Täler, die die Oberfläche durchsetzen, sahen wie echte Sonnenflecken aus, die ich einmal auf einem Foto gesehen hatte.
    Ich tastete meinen Untergrund ab – fühlte Zweige und Blätter – und setzte mich hin. Jede Bewegung fiel mir leicht, obwohl ich mich fühlte, als trüge ich einen schweren Umhang, der sich ständig im Geäst verfing.
    Dann hielt ich mir die rechte Hand vors Gesicht.
    Die Hand war klein und schmal, mit zwei Fingern und einem Daumen; harte, flache Fingernägel krönten die Kuppen. Während die Innenfläche zartrosa schimmerte, sproß auf dem Handrücken ein moorbraunes Fell. Zwischen den Fingern wuchsen Schwimmhäute – durch die geäderten Membrane schimmerte das Licht – und eine Flughaut fiel in lockeren, unordentlichen Falten von meinem Unterarm. Die Haut war mit einem feinen, seidigen Pelz bedeckt, der einen akkuraten, stromlinienförmigen Strich hatte wie bei einer Katze. Als ich die Arme hob, sah ich, daß sich die Flughäute bis hinunter zu meinen krummen, spindeldürren Beinen erstreckten; es überraschte mich nicht, daß auch meine Beine mit einer fleischigen Membran verbunden waren.
    Als ich meine Fingernägel in dieses fallschirmähnliche Zeug grub, spürte ich einen stechenden Schmerz. Dieser schäbige Umhang war also ein Bestandteil meines Körpers.
    Ich war ebenfalls ein Affe. Der König der Swinger, der Dschungel-VIP. Ich lachte – hielt jedoch sofort inne, als ich das Kreischen und Quieken hörte, das aus meiner Kehle drang.
    Ich hockte auf den obersten Ästen eines Baums. Der Baum füllte die gesamte Welt aus; durch die Zweige spähte ich nach unten, wo sich der Boden in einem schimmernden, grünlichen Halbdunkel verlor.
    Es raschelte in den Blättern; anmutig wie ein Spatz landete mein äffischer Freund vor mir. Seine Flugsegel klappten sich faltenschlagend zusammen. Das Gesichtchen war klein und zart, mit einer langen Schnauze, hervorspringenden Nüstern und einem winzigen Mund.
    »Mein Gott«, zwitscherte das Wesen. »Gerade ist es mir aufgefallen.«
    »Was?«
    »Du sprichst Englisch. Mein Gott, mein Gott.«
    »Ja, und?«
    »Begreifst du denn nicht – es hätte auch Etruskisch sein können.« Das Tierchen zog die Nase hoch und wischte sich mit der pelzigen Hand eine Träne ab. »Aber vielleicht war alles so geplant.«
    Ich überlegte, ob ich die Augen wieder schließen sollte. »Leider habe ich keinen blassen Schimmer, wovon du sprichst.«
    »Entschuldige bitte.« Mit glänzenden, menschlichen Augen sah mich der Affe an. »Ich heiße George; George Newbould. Ich wohnte in London, 1985, wenn ich mich recht erinnere. Nach Christi Geburt«, fügte er ergänzend hinzu.
    Ich öffnete den Mund – und klappte ihn wieder zu. »Mein Name ist Phil Beard. Aber das Datum …« – 1985? »Ich verstehe das nicht. Welches Datum haben wir denn?«
    Das Äffchen – George, sollte ich wohl sagen – kratzte sich zerstreut sein spitzes Ohr. »Du hast also kapiert, daß es kein Traum ist?«
    »Ich kapiere überhaupt nichts …« Frustriert schüttelte ich den Kopf. »Klär mich bitte auf. Hatte ich vielleicht einen Unfall?«
    Er grinste und bleckte zwei Reihen flacher Zähne. »So könnte man es nennen. Paß auf, Mr. Beard, ich weiß auch nicht viel mehr als du. Aber ich bin schon ein paar Tage länger … äh … wach, und

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