Das Jahr der Maus
ich habe ein paar Spekulationen angestellt. Früher war ich Lehrer, weißt du – ich unterrichtete Allgemeinwissen an einer Mittelschule –, deshalb bin ich über vieles ganz gut informiert und …«
»Könnten wir uns deinen Lebenslauf nicht für später aufheben?«
»Ja, sicher. Entschuldigung. Ich glaube, wir wurden rekonstruiert.«
Ich zupfte an einem Hautlappen. »Wie denn? Außerdem brauchte ich nicht rekonstruiert zu werden, ich war weder krank noch tot …«
»Du fragst, wie man uns rekonstruiert hat … von einem DNA-Fragment, nehme ich an; einem Schnipsel von einem Fingernagel oder einem Zahn in einer Fossilienschicht. Nach dem Prozeß des Klonens, vermutlich.«
Fossilienschicht? Ich blickte zu der riesenhaften Sonne empor und erschauerte.
»Deshalb können wir uns nicht deutlich an unsere Vergangenheit erinnern, verstehst du? Der ursprüngliche Phil Beard schnitt sich die Fingernägel, warf die abgesäbelten Stückchen einfach weg, und sein Leben ging weiter. Der neue Beard ist ein Klon, der mit seinem Original nur eine vage Ähnlichkeit hat, ohne dessen spezifische Erinnerungen zu kennen. Wer für diese Rekonstruktionen verantwortlich ist, kann ich nicht einmal erraten.« Er hob sein Gesichtchen himmelwärts; das Licht des Kometen betonte die Knochenwülste um seine Augen. »Nach so langer Zeit gibt es vielleicht gar keine Menschen mehr. Möglicherweise beherrschen die Ameisen jetzt die Welt. Oder das Leben, wie wir es kennen – ich meine, Lebensformen, die auf unserer Art von DNA basieren –, ist völlig ausgestorben; eventuell hat sich eine total andersartige Kategorie von Lebewesen durchgesetzt, deren Existenz nicht an Kohlenstoff, sondern meinetwegen an Silizium gebunden ist …«
»George«, ich bemühte mich, die Ruhe zu wahren, »wie wurde ich ein Fossil? Wo sind wir? Welches Jahr schreiben wir?«
Mit dem Daumen deutete er gen Himmel. »Ich glaube, das ist die Sonne. Unsere Sonne, meine ich. Sie hat sich zu einem Roten Riesen aufgebläht. Du möchtest ein Datum wissen? Fünf Milliarden Jahre nach Christi Geburt. Schwankungen nach unten oder oben sind möglich.«
Ich rieb mein pelzbedecktes Kinn. »Dann sind seit 1985 also fünf Milliarden Jahre vergangen. Die Sonne hat sich in einen Roten Riesen verwandelt, die menschliche Rasse ist längst ausgestorben, und Superwesen aus der Zukunft haben mich als eine kleine, behaarte Ausgabe von Batman rekonstruiert.«
Von der Seite her schielte er mich an. »So ungefähr. Du glaubst es nicht, oder?«
»Nie im Leben!«
Er zuckte die Achseln und spreizte seine Segel. »Deine Sache.«
»He. Warte auf mich«, rief ich. Ich versuchte aufzustehen, aber mit meinem Gleichgewichtssinn stimmte etwas nicht; ich verlor die Balance und kippte vornüber in das Laub. »Wie geht das mit dem Fliegen? Muß man die Arme auf und ab bewegen?«
»Es ist kein Fliegen, sondern Gleiten. Mit dem Daumen regulierst du den Winkel der Segel. Schau her.«
Im Licht der greisen Sonne segelten George und ich durch die Äste unseres Baums.
Der Baum trug Früchte. Ich strolchte durch die obersten Zweige und knabberte kostend mal hier und mal da. Am besten mundete mir eine bittersüße, rote Beere. Ich probierte die faustgroßen Blätter; sie waren fade und schmeckten nach nichts. Aber die jüngeren Triebe waren prall gefüllt mit Wasser; ich quetschte sie im Mund aus und spürte, wie die kühle Flüssigkeit meine Kehle hinunterrann. George sagte, einmal hätte es geregnet, und es sei ihm gelungen, in einem Gefäß aus Blättern frisches Wasser zu sammeln.
Ein paar der grüneren Zweige waren dünner als Bambus und äußerst biegsam; George hatte sich daraus einen kastenähnlichen Kokon geflochten. Indem er die Lücken zwischen den Ruten mit Blättern zustopfte, waren die Wände ziemlich dicht. Zuerst lachte ich über dieses Kabäuschen. »George, du brauchst gar keinen Unterschlupf.« Theatralisch schlug ich mit meiner Flatterhaut. »Es ist warm, und es weht höchstens mal eine laue Brise. Und außer uns lebt hier niemand … oder doch?«
»Darauf kommt es nicht an, Mr. Beard. Ich bin ein Lehrer aus West London. An den Lebensstil eines fliegenden Halbaffen bin ich nicht gewöhnt. Umgeben von vier Wänden und mit einem Dach über dem Kopf fühle ich mich sicherer.«
Ich verspottete ihn.
Doch als ich schläfrig wurde, machte ich mich automatisch auf den Weg zu Georges behelfsmäßiger Bude. Als ich eintrat, schaute er von seiner Arbeit auf – aus einem Ast und einer
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