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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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lianenartigen Ranke stellte er einen Bogen her, indem er mit seinen ungeschickten Händen geduldig immer wieder Anlauf nahm – und wandte dann wortlos den Blick ab.
    Ich verkrümelte mich in die dunkelste Ecke der Hütte und wickelte mich in meine Hautlappen ein.
    Als ich wach wurde, war George mit seinem Bogen fertig. Die Sehne hatte er um einen kurzen Stock gewickelt, und nun drehte er das Stöckchen probehalber mit der Bogensehne hin und her. Während sich seine Silhouette dunkel gegen das schummriggrüne Licht abhob, wirkten seine Bewegungen graziös, beinahe sinnlich. Tief drunten in meinen Lenden fing es sonderbar an zu kribbeln.
    Mir fiel ein, daß ich eigentlich Angst haben müßte; konnte man während des Träumens einschlafen?
    Trotzdem spürte ich immer noch keine Furcht. Unterdessen hatte sich das Ziehen in meinen Lenden in eine andere Art von Schmerz verwandelt; ob Mann oder Halbaffe, der Druck einer vollen Blase war unverkennbar. Ich erhob mich aus meiner Ecke, rieb mir den Schlaf aus den Augen und kletterte nach draußen.
    Dann fingen meine Probleme an.
    Mit dem Penis eines Fliegenden Lemuren kann man unter der Gemeinschaftsdusche nicht angeben, selbst wenn er erigiert ist. Fünf Minuten lang dauerte es, bis ich das verdammte Ding gefunden hatte, und dann konnte ich ihn kaum festhalten; ich strullerte in die Luft und fühlte, wie mir das heiße Naß über die Hände rann.
    Was das andere Geschäft angeht – na ja, ich hatte einen fellbedeckten Hintern, Blätter zum Abwischen und kein fließendes Wasser.
    Aber auch das Lemurenleben hat seine Reize …
    Nachdem ich mich erleichtert hatte, unternahm ich einen Streifzug durch die Krone unseres Weltenbaums und spürte, wie der Wind meine Fallschirmhaut blähte; wenn ich eine Brise einfangen konnte, schwebte ich in der Luft wie eine Möwe, umgeben vom Licht des Kometen und dem süßen Duft des wachsenden Holzes.
     
    Gigantisch und krank hing die Sonne am Himmel. Hier gab es keinen Unterschied zwischen lag und Nacht.
    Auch darüber hatte George eine Theorie. »Ich glaube nicht, daß wir auf der Erde sind. Ich glaube, sie …«
    »Wer?«
    »Die Schöpfer, die Wesen, die uns rekonstruierten … Ich glaube, sie haben diesen Ort eigens für uns geschaffen.«
    »Wieso gaben sie uns dann nicht Tag und Nacht?«
    Mit einem Finger popelte er in seinem breiten Nasenloch. »Vielleicht kamen sie gar nicht auf den Gedanken. Weißt du, irgendwann einmal – lange nach uns – haben die solaren Gezeiten die Erdumdrehung verlangsamt; zum Schluß wanderte die Sonne nicht mehr über den Himmel, Tag und Nacht waren aufgehoben.«
    »Aber die Schöpfer müssen doch gewußt haben, daß wir aus einer Zeit stammen, als die Erde sich noch drehte.«
    »Für sie lag das vielleicht zu lange zurück. Mr. Beard, viele unserer Zeitgenossen dachten zum Beispiel, daß Alexander der Große und Julius Cäsar gleichzeitig lebten, dabei existierten sie in ganz verschiedenen Jahrhunderten.«
    »Liegt unsere Zeit so weit zurück?« Mir grauste, und das Fell auf meinen Armen sträubte sich. Abwesend strich ich es wieder glatt. Fasziniert betrachtete George das Spiel meiner kleinen Muskeln; dann fing er sich wieder und wandte verlegen den Blick ab.
    »Wieso konnten sie uns nicht einfach auf der Erde aussetzen?« fragte ich. »Aber vielleicht ist sie mittlerweile gar nicht mehr bewohnbar, was meinst du? Der Treibhauseffekt, das Ozonloch …«
    George lachte und flatterte mit seinen Segeln. »Mr. Beard, ich fürchte, die Ozonschicht hat dasselbe Schicksal ereilt wie Ninive und Tyrus.«
    »Wie was?«
    »Egal. Die Sonne hat ihren Wasserstoffvorrat verbrannt und ist zu dieser gewaltigen diffusen Kugel über uns angeschwollen. Als die äußeren Gasschichten den Orbit der Erde streiften, wurde der Planet – oder was von ihm übrig war – ins Zentrum von Sol gesogen. Bald verflüchtigte er sich zu einem Nebel aus Eisen; dasselbe geschah mit dem Merkur, der Venus, dem Mars … Sämtliche Planeten sind verschwunden.«
    Ich stierte zur Sonne empor. »Das stimmt einen nachdenklich, was, George?«
    »Und ob. Wir sind sehr weit von zu Hause weg.«
     
    Eine Stunde verlief wie die andere.
    Ich hangelte mich durch die Äste in die Tiefen unseres Baumes. Als ich in das grüne Dämmerlicht eintauchte, fing das Fell auf meinem Rücken an zu prickeln; aber das verfilzte Geflecht aus Zweigen schien leer zu sein. Keine Vögel, nicht einmal Insekten. Ich wunderte mich, wie dieser Baum sich am Leben erhielt. War eine

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