Das Jahr der Maus
virtuellen Partikeln wuchern ließen. Atome waren, was Ladung und Farbe anging, neutral, doch ihre jeweiligen Elektronen und Quarks verbreiteten dennoch Wolken virtueller Photonen und Gluonen. Jede vorhandene Materie reagierte auf Teile des virtuellen Schwarms, und die anfängliche Störung verbreitete sich durch die Raumzeit und sandte dabei wiederum selbst virtuelle Partikel aus. Wobei der Unterschied zwischen der Wirkung einer Tonne Steine und der einer Tonne Neutrinos im Nu ausgelöscht war. Sie wurde gemäß einer inversen Quadratfunktion mit zunehmender Entfernung geringer. Durch diesen Regen virtueller Partikel – und den durch sie verursachten Phasenveränderungen –, die von Ort zu Ort verschieden ausfielen, verliefen die Bahnen nicht mehr entsprechend der Geometrie der flachen Raumzeit. Das leuchtend rote Dreieck der wahrscheinlichsten Flugbahnen war nun leicht gebogen.
Die grundlegende Idee ging zurück auf Sacharow: Schwerkraft sei nichts anderes als die unvollkommene gegenseitige Aufhebung anderer Kräfte. Man brauche nur lange genug am Quantum-Vakuum herumzudrücken, schon fielen Einsteins Gleichungen heraus. Doch seit Einstein war jede Theorie der Schwerkraft stets auch eine Theorie der Zeit. Relativität verlangte, daß die Rotationsphase eines frei fallenden Partikels mit jeder Uhr übereinstimmte, die dieselbe Bahn entlang reiste. Und sobald schwerkraftbedingte Zeitdilatation mit Veränderung der virtuellen Teilchendichte verknüpft war, ließ sich jede Zeitmessung – von der Halbzeitwert eines Radioisotops (stimuliert durch die Fluktuation des Vakuums) bis hin zu den Vibrationsweisen eines Quarzteilchens (die letztendlich ihren Ursprung denselben Phaseneffekten verdankten wie die klassischen Bahnen) – als Ergebnis von Interaktionen mit virtuellen Partikeln interpretieren.
Es war diese Denkweise gewesen, die Kumar – hundert Jahre nach Sacharow, aufbauend auf Arbeiten von Penrose, Smolin und Rovelli – zu einem Modell der Raumzeit als Quantensumme inspirierte, als Quantensumme jedes erdenklichen Netzwerks von Teilchenweltlinien, wobei die klassische ›Zeit‹ sich aus der Anzahl der Schnittstellen entlang eines gegebenen Strangs des Netzes entwickelte. Dieses Modell war ein uneingeschränkter Erfolg gewesen, das theoretischen und experimentellen Überprüfungen seit Jahrhunderten standgehalten hatte. Aber es war niemals auf den kleinsten Längenskalen validiert worden, die nur bei einem absurden Energieaufwand zugänglich gewesen wären. Und es versuchte nicht die elementare Struktur der Netze oder die Gesetze zu erklären, die ihm zugrunde lagen. Gisela wollte die Ursache für diese Details wissen, sie wollte das Universum bis in seine tiefsten Tiefen ergründen, die Schönheit und Einfachheit erkennen, die sich hinter all dem verbarg.
Deshalb nahm sie am Planck-Sprung teil.
Der Bote begegnete erneut ihrem Blick. Er sandte Etiketten aus, die ihn als Repräsentanten des Bürgermeisters von Cartan auswiesen: empfindungslose Software mit der Aufgabe, sich um gute Beziehungen zu den anderen Poleis zu kümmern, all den für ein gutes Klima unabdingbaren Verpflichtungen nachzukommen, und kleinere Konfliktpunkte auszuräumen, in die keine real existierenden Bürger verwickelt waren. Da Cartan sich seit beinahe drei Jahrhunderten siebenundneunzig Lichtjahre von der Erde entfernt in der Umlaufbahn Chandrasekhars befand – und im Augenblick sogar noch weiter von allen anderen weltraumreisenden Poleis entfernt war –, war es Gisela vollkommen rätselhaft, welche dringenden diplomatischen Probleme den Bürgermeister beschäftigen mochten und warum er sich damit ausgerechnet an sie wandte.
Sie schickte dem Boten ein Aktivierungsetikett, der darauf, der ästhetischen Kontinuität der Scape folgend, über die Dünen rannte und vor ihr, eine Sandwolke aufwirbelnd, zu stehen kam. »Wir sind soeben dabei, zwei Besucher von der Erde zu empfangen.«
Das erstaunte Gisela. »Von der Erde? Welche Polis?«
»Athena. Der erste ist gerade angekommen, der zweite wird noch die nächsten neunzig Minuten im Transit sein.«
Gisela hatte noch nie von Athena gehört, aber neunzig Minuten pro Person, das klang merkwürdig. Die wichtigen Daten eines Bürgers ließen sich in knapp einem Exabyte bequem unterbringen und damit in ein paar Millisekunden auf einem Gammastrahl übertragen. Wollte man den ganzen Körper eines Fleischlichen simulieren – Zelle für Zelle, bis in das redundante Gedärm –, war das eine
Weitere Kostenlose Bücher