Das Jahr der Maus

harmlose Extravaganz, doch auch die letzten mikroskopischen Details des ›eigenen‹ Dünndarms über siebenundneunzig Lichtjahre hinweg zu verschicken, war einfach nur überspannt.
    »Was weißt du über Athena? Faß dich kurz.«
    »Es wurde 2312 gegründet, mit einer Charta, die das Ziel umfaßte, ›die verloren gegangenen Tugenden der Fleischlichen wiederzubeleben‹. In öffentlichen Foren zeigen seine Bürger wenig Interesse an exopolitanischer Realität – die nichts mit der Geschichte und den Kunstformen der Fleischlichen zu tun hat –, doch sie nehmen an einigen aktuellen, verschiedene Poleis übergreifenden, kulturellen Aktivitäten teil.«
    »Warum sind dann diese beiden hierher gekommen?« Lachend fügte Gisela hinzu: »Falls sie der Langeweile entfliehen wollen, hätten sie doch auch weniger weit entfernt von zu Hause um Asyl nachsuchen können?«
    Der Bürgermeister nahm sie wörtlich. »Sie haben sich nicht um die Bürgerrechte Cartans bemüht, sie besitzen nur Besucherrechte der Polis. In der Präambel ihrer Übertragung erklärten sie, der Grund für ihr Kommen bestünde darin, Zeuge des Planck-Sprungs zu werden.«
    »Zeuge – nicht Teilnehmer?«
    »So lautete ihre Erklärung.«
    Sie hätten von zu Hause aus ebensoviel gesehen wie jeder Nichtteilnehmer hier in Cartan. Kaum war die Idee zu dem Planck-Sprung, kurz nachdem sie sich in die Umlaufbahn um das Schwarze Loch begeben hatten, aus wenig mehr als ein paar Witzen und Gedankenexperimenten entstanden, hatte das Sprungteam angefangen, alles zu übertragen – die Studien, die schematischen Darstellungen, die Simulationsläufe, die technischen Daten und die metaphysischen Diskurse. Doch zumindest verstand Gisela nun, warum der Bürgermeister auf sie gekommen war – sie hatte sich bereit erklärt, allen Bitten um Informationen über den Sprung nachzukommen, die sich nicht automatisch über die öffentlichen Quellen beantworten ließen. Bisher schien jedoch noch niemand in ihren Berichten ein nennenswertes Detail vermißt zu haben, das die Nachfrage gelohnt hätte.
    »Der erste befindet sich also im Zwischenmodus?«
    »Nein. Sie wachte auf, nachdem sie angekommen war.«
    Das war noch merkwürdiger als die Unmenge an Daten, mit denen sie gereist waren. Wenn Leute gemeinsam verreisten, sollte man doch davon ausgehen, daß sie die Aktivierung des ersten verzögerten, bis auch der zweite angekommen war. Oder daß sie, was noch besser wäre, ihre Bits in einem Datenpaket zusammenschnürten.
    »Aber sie befindet sich noch in der Ankunftslounge?«
    »Ja.«
    Gisela zögerte. »Sollte ich nicht warten, bis der zweite Besucher angekommen ist? Dann könnte ich sie doch gemeinsam begrüßen?«
    »Nein!« Was das anging, schien sich der Bürgermeister ganz sicher zu sein. Gisela wünschte sich, das Interpolis-Protokoll erlaube empfindungsloser Software, Besucher zu empfangen. Sie selbst fühlte sich für diese Rolle denkbar ungeeignet. Doch wenn sie anfing, sich umzuhören, Rat zu suchen und sich eingehend mit Athenas Kultur zu beschäftigen, hätten die Gäste wahrscheinlich alles Sehenswerte in Cartan besucht und wären wieder abgereist, bevor sie soweit war, sie zu empfangen.
    Sie faßte sich ein Herz und sprang.
     
    Vom letzten Designer, der sich an der Ankunftslounge hatte austoben dürfen, war diese in eine Mole aus Holzplanken inmitten eines grauen, windgepeitschten Ozeans umgestaltet worden. Der erste der beiden Besucher stand noch immer geduldig am Ende der Mole, was in Ordnung ging. Schließlich war sie in der anderen Richtung nicht begrenzt, und es war ja nicht gerade aufbauend, vollkommen vergeblich ein paar Kilodelta zu marschieren. Ihr Reisegenosse, der sich noch immer im Transit befand, wurde durch einen regungslosen Platzhalter verkörpert. Beide Icons waren in hohem Maße anatomisch-realistisch und trotz der Bekleidung deutlich als männlich, beziehungsweise weiblich identifizierbar. Wobei das bereits aus der Starre erwachte weibliche Icon wesentlich jünger wirkte. Giselas eigenes Icon war stärker durchstilisiert. Seine Oberfläche – sowohl ›Haut‹ als auch ›Kleidung‹ verfügten, wenn sie es wünschte, über eine Art Tastsinn – besaß eine diffuse Struktur, die das Licht nach ganz eigenen optischen Regeln zurückwarf, wie sie so bei keinem real existierenden Material zu finden waren.
    »Willkommen auf Cartan. Ich heiße Gisela.« Sie streckte die Hand aus, und die Besucherin trat einen Schritt vor und schüttelte sie –