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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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zurück.
    Plötzlich verrauchte mein Zorn, und ich schämte mich für meinen Ausbruch. »George, George.« Ich kauerte vor ihm nieder und zog an seinen Armen. »Ist ja schon gut.«
    Er hob die Armchen, so daß sie sein tränenüberströmtes Gesicht umrahmten. »Es tut mir leid.«
    »Ich bin derjenige, der sich entschuldigen muß, George.«
    »Ich vermisse meine Frau.«
    Meine Kinnlade klappte herunter. »Ich hatte ja keine Ahnung, daß du verheiratet warst.«
    Er zuckte die Achseln und verbarg abermals sein Gesicht.
    »Kinder?«
    Er schüttelte den Kopf.
    Schüchtern streichelte ich seine Arme. Die Haut fühlte sich warm und weich an, und der Strich des Fells schien meine Hände zu führen.
    Wieder spürte ich das Kribbeln in den Lenden.
    Rasch ließ ich die Hände sinken. »Mein Gott, George, du bist ein Weibchen, stimmt’s?«
    Er nickte bekümmert. »Auch so ein kleiner Schnitzer unserer Schöpfer. Als ob ich nicht schon genug Sorgen hätte.«
    Behutsam rückte ich von ihm ab. »George, das ändert alles zwischen uns; wir müssen unsere Beziehung neu überdenken.«
    Er nahm die Arme herunter und griff nach seinem primitiven Werkzeug. »Ich möchte lieber nicht darüber sprechen«, sagte er und fing wieder geduldig an zu bohren.
    Ich sprang und segelte durch das Geäst des Weltenbaums, um das Ziehen in meinem Unterleib loszuwerden.
     
    George füllte die Delle in dem Holzstück mit Fetzen von trockenem Laub, das er vom Waldboden geholt hatte. Dann wickelte er die Sehne seines Bogens um einen dünnen Stock, stellte diesen in die Blätter und bewegte den Bogen geduldig hin und her, so daß sich der Stock in den Blättern drehte.
    Schläfrig sah ich ihm zu. »Denk doch mal nach«, sagte ich. »Alles ist weg.«
    »Was?«
    »Na, Beethoven, Mozart. Außer uns entsinnt sich keiner mehr.«
    Er wischte sich mit einer Hand über die Stirn und spähte zu dem glänzenden Kometen empor. »Aber wir erinnern uns. Ich glaube, aus diesem Grund wurden wir hierhergebracht. Ich glaube, wir steuern auf einen einzigartigen Augenblick in der Geschichte des Sonnensystems zu, und um diesen zu beobachten, hat man uns zurückgeholt.«
    »… Und was ist mit der Musik, die wir nie gehört, mit den vielen Büchern, die wir nicht gelesen haben …? Diese Kunstwerke sind verschwunden, als hätten sie nie existiert.« Ich fühlte mich abgespannt und gereizt; hinter meiner Nörgelei verbarg sich eine große Einsamkeit. »Und all das andere Zeug, der Schund, den man uns täglich in die Köpfe stopfte. Die Kirche der Heiligen der Letzten Tage. Das Finanzamt. Alles ist ausgelöscht. Mein Gott, George, niemand sonst in der gesamten Schöpfung erinnert sich an ›Born Too Late‹ von ›The Ponytails‹.«
    »Selbst ich kenne diesen Song nicht«, erwiderte er, noch immer seinen Stock zwirbelnd.
    »Sollen die Schöpfer doch versuchen, ›The Ponytails‹ zu rekonstruieren.« Meine Schnauze zuckte. »Wenigstens weiß ich, daß ich nicht verrückt bin. So was wie ›The Ponytails‹ kann man sich nicht mal im Traum ausdenken. George, es riecht ein bißchen nach …«
    Ein dünner Rauchfaden stieg von der Grube mit Blättern hoch. »Ich hab’s geschafft!« hauchte George.
    Eine geraume Zeit lang stierten wir beide darauf. Dann schirmte George das qualmende Häufchen mit seinen Gleitsegeln ab und pustete; Rauch wirbelte um sein Gesicht. Wie ein Wilder warf ich tote Blätter in das keimende Feuer und fluchte, als das zundertrockene Laub unter meinen harten Fingerkuppen zerbröselte.
    Eine einzige Flamme leckte an einem Blatt.
    Wir brachen in ein Geheul aus und führten einen Tanz auf.
    Dann fing es an zu regnen.
    Entgeistert glotzte ich nach oben. Eine dicke, heimtückische Wolke hatte sich vor das rote Antlitz der Sonne geschoben, und die ersten Tropfen trommelten auf die Blätter. Ein paar Sekunden lang zischte das brennende Laub, dann erstickte unsere kleine Feuerstelle, und nur ein durchweichter Matsch blieb übrig.
    George klappte schlicht und einfach zusammen.
    Ich hob mein nasses Gesicht gen Himmel. »Warum tut ihr uns das an? Wir waren schon lange tot. Wieso konntet ihr uns nicht in Frieden lassen?«
    Natürlich kam keine Antwort; und in diesem Moment begriff ich, das dies die Realität war, daß ich bis in alle Ewigkeit hier festsaß, und daß ich nie eine Antwort erhalten würde.
    An das, was dann passierte, kann ich mich nur noch verschwommen erinnern.
    Wie ein Tobsüchtiger wirbelte ich durch meine Welt. Ich trampelte Georges primitiven Herd

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