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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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nicht, daß ich am Steuer saß, weil sie glaubte, daß ich zu viel getrunken hätte.
    Es war so lebensecht. Es war, als durchlebte ich erneut eine Szene meines Lebens. Aber dann ereignete sich das Merkwürdigste. Von dem Augenblick an, da ich den Motor startete, teilte sich der Traum, und von da an war es, als erlebte ich zwei Fassungen des Geschehenen. Eine von ihnen kann ich nicht vergessen. Ich kam zu der Erkenntnis, daß ich nicht zu fahren imstande war, und wir stiegen aus und riefen ein Taxi. Der andere war, daß ich losfuhr. Die beiden Spulen liefen eine Zeitlang simultan in meinem Kopf ab. Ich spürte für eine kurze Sekunde in der zweiten Spule eine entsetzliche Panik, und dann wurde alles schwarz.
    Ich habe das Gefühl, daß etwas Entscheidendes passiert ist, aber ich weiß nicht genau, was.

 
    Blaurotverschiebung
     
    Chris streichelte sanft Isobelles Foto. Er saß auf seinem Bett. Er hatte ein Stück Papier mit einem Ausdruck in der Hand und las die letzte Zeile noch einmal laut seiner Frau vor.
    »Ich habe das Gefühl, daß etwas Entscheidendes passiert ist, aber ich weiß nicht genau, was.«
    Er holte tief Atem. »Ich werde dem Ding einen Namen geben, Isobelle, und es wird ewig uns gehören.«
    Ruhe durchströmte ihn.
    »Ich werde es den Doppelgänger-Effekt nennen.«
    Er stand auf, trug das Foto zum Fenster und blickte hinaus auf den kosmischen Tanz des Nachthimmels.

 
    Rotblauverschiebung
     
    Seltsamer und immer seltsamer. Ich bin meiner als zwei bewußt. So viele Fragen. Kann sich ein Wagen zur selben Zeit nähern und entfernen? Welches Quantenphänomen hat sich hier bei Lichtgeschwindigkeit ereignet? Wie beeinflußt der Beobachter das Beobachtete? Teilchen oder Welle? Endlich oder unendlich? Ich hielt Isobelle, während sie schlief. Dessen bin ich gewiß. Ist das die Bestimmung des Netzes? Sind wir angekommen?

 
    Blaurotverschiebung
     
    Chris trat in die kühle Nachtluft hinaus, holte tief Atem und begann auszuschreiten. Die Straßenbahngleise erstreckten sich vor ihm und schienen am schweigenden Horizont miteinander zu verschmelzen. Er blickte zum Himmel empor und hob den Kopf, als könnte er in der Ferne etwas hören.
    Und zum ersten Mal seit langem lächelte er.
     
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    Originaltitel: ›THE DOPPELGÄNGER EFFECT‹ • Copyright © 2000 by Dirk Strasser • Originalveröffentlichung • Mit freundlicher Genehmigung des Autors • Copyright © 2000 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München • Übersetzt von Franz Rottensteiner
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Marcus Hammerschmitt • Deutschland
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DIE HELFER
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    Und obwohl ich müde bin auf meiner Reise, habe ich das Bedürfnis, all das aufzuschreiben, damit es nicht verloren geht, aber es geht verloren, und was dann? Meine Arbeit war nie die Erinnerung, sondern die Gerechtigkeit; die Gerechtigkeit ist eine grausame Arbeit, sie tötet den, der sie ausübt. Ich kann noch eine Weile entgehen, und das ist gut so, denn ich lebe gern. Das Leben ist nicht gerecht. Die Gerechtigkeit ist nicht lebendig. Ständig in Bewegung, bevor ich angetroffen werde von N. N. ist nahe, er sitzt vielleicht in diesem Zug. Es gibt keinen Kampf. Ich habe lediglich Fieber. Nozizeptoren, die nach dem siebten Haus kein Fieber haben, sind äußerst selten, man sagt auch, sie würden verschont. Ich habe Fieber, und ich kann nichts dagegen tun, denn ich will leben. Ich war noch nie so müde. Zu Lande, zu Wasser und in der Luft. In diesen schwebenden Bahnen möchte ich immer singen, Kinderlieder, nirgends ist man so ausgesetzt wie in den Bahnen, ein Flugzeug ist eine warme stählerne Hülle ohne Außenwelt, Autos sind gesellig, nur auf den Zug fällt die ganze Nacht auf einmal herab. N. ist mächtiger. Ich kann ihn nicht kennen. All meine sieben Häuser hallen wider von den Echos ihres einstigen Inhalts. Wenn ich ein Koloß wäre, der rauchend und fauchend aus dem Himmel stürzt. Wenn ich ein Schriftsteller wäre und meine Geschichte aufschreiben würde, hier auf Reisen, auf den schmalen Tischen, auf dem Schoß, und es hat einmal Züge gegeben, die so langsam waren, daß ihre Fenster geöffnet werden konnten, und der Wind konnte hereinfahren und die Blätter, die da auf den schmalen Tischen lagen, anheben und aufsteigen lassen und dann mit einem wilden Flattern aus dem Fenster reißen wie Asche, wie Herbstlaub, wie Zahnscherben, die ein Faustschlag aus dem Mund des Getroffenen platzen läßt, nein. Oder ich könnte mich chauffieren lassen in einem schwarzen Wagen

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