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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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bei allem, was er nicht erklären konnte, aber dennoch scharf mißbilligte. Der Vater mißbilligte auch die Beschäftigung des Sohnes mit Ostasien, vor allem daß sein Sohn es offenbar darauf anlegte, möglichst lange still und mit gekreuzten Beinen auf einem Fleck herumzusitzen, kam ihm wie reine Zeitverschwendung vor. Da man Behörden gehorchen muß, sagte der Vater zum Sohn, er solle da hingehen, und da man Vätern gehorchen muß, folgte der Sohn diesem Rat, wenn auch mit einem gewissen grimmigen Vergnügen. Die Behörde residierte in einem sehr modernen Gebäude, das dem Sohn vorher noch nie aufgefallen war, obwohl er die Straße oft passierte, sie führte nämlich zu einem Ort, an dem der Sohn mit seinen Freunden ostasiatisches Brauchtum pflegte. Das Gebäude schien leer, als er es betrat, aber die Stimme einer unsichtbaren Frau nahm ihn in Empfang und führte ihn durch die Gänge, indem sie ihn bei seinem Nachnamen nannte. Dem jungen Mann war neugierig zumute und ein wenig flau im Magen, denn diese Veranstaltung fühlte sich doch ein wenig zu fremdartig an, weitaus fremdartiger als die religiösen Traditionen indischer Einsiedler etwa. Zu dem besagten Büro öffnete sich die Tür ganz von selbst, die künstlichen Augen, die solch überraschende Effekte möglich machten, waren überhaupt nicht zu sehen. In dem Büro war er eine Weile allein, sah über die Dächer seiner Stadt und machte sich dabei so allerhand Gedanken. Das änderte sich schlagartig, als ein Mann in äußerst seriöser Kleidung den Raum betrat, denn das wandgroße Fenster wurde dunkel, als sei ein Rauch davor aufgezogen. Der Mann sah aus, als wüßte er genau, was er wollte, er stellte sich nicht vor und er gab dem jungen Mann nicht die Hand. Mit einem minimalen Zeichen seiner Linken befahl er dem jungen Mann, sitzenzubleiben, und der junge Mann wunderte sich noch, daß er gehorchte. (Er war sich mittlerweile sicher, daß er hier sterben würde). Der Anzug setzte sich hinter einen Schreibtisch, und klatschte in die Hand, ein Dokument erschien in der Luft, das er allein einsehen konnte, der junge Mann saß auf der falschen Seite. Vor einem halben Jahr war in den Zeitungen des Königreichs zu lesen gewesen, daß diese Art von Kommunikationstechnik in spätestens fünf Jahren massenmarktfähig sein werde. Der Anzug sah nicht den jungen Mann an, sondern sein schwebendes Blatt.
    »Wir möchten Sie gern engagieren«, sagte der Anzug.
    Seine Haut war glatt, aber aus irgendeinem Grund schien er dem jungen Mann recht alt zu sein. Im Gegensatz zu der rasend modernen Atmosphäre trug der Anzug eine lächerlich antiquierte Brille, und die Farbe der Augen dahinter ließ sich schlecht feststellen, denn sein Gesicht wurde von dem schwebenden Blatt beleuchtet. Der junge Mann fühlte sich dazu verpflichtet, deswegen sagte er: »Aha.« Etwas Besseres fiel ihm nicht ein, da er sich immer noch auf seinen Tod vorbereitete. »Nicht was sie denken. Nichts, was sie je denken könnten. Wenn Sie ja sagen, werden sie für ihre Aufgabe ausgebildet. Das ist nötig, obwohl Sie sich seit Jahren recht gut vorbereitet haben, mit ihren Freunden in der Lausanner Straße.« Der Anzug strich mit einem dünnen Stab auf seinem schwebenden Dokument herum, gerade so, als korrigiere er einen Text. In der Lausanner Straße lag das Zentrum für ostasiatisches Brauchtum, das der junge Mann so ausdauernd besuchte. Er mußte plötzlich an einen Gast denken, der vor einigen Wochen bei ihm und seinen Freunden im Meditationsraum aufgetaucht war. Dieser Mann hatte einen seltsam perfekten Eindruck gemacht, sich beim Abschied höflich verbeugt und war später nie mehr gesehen worden. Die Freunde des jungen Mannes waren von dem Fremden sehr begeistert gewesen, einer hatte sogar behauptet, der Fremde habe sehr hohe Herz-Chakra-Frequenzen gehabt. Der junge Mann sah noch einmal genauer hin. Der Anzug glich dem Fremden von damals nicht im geringsten. Er konnte jetzt trotz des extrem hohen Adrenalinspiegels und seines etwas unregelmäßigen Pulses wieder einen klaren Gedanken fassen. Der Gedanke lautete: »Geheimdienst.« Der Anzug, der seine Gedanken erraten zu haben schien, sagte: »Nicht, was Sie denken.« Dann sah er den jungen Mann zum ersten Mal direkt an. »Sagen Sie ja?« Der junge Mann fand nicht heraus, an wen ihn sein Gegenüber erinnerte. Er antwortete: »Ich … ich wüßte gerne, worum es geht.« Der Anzug spitzte seine Lippen. »Um die sieben Häuser des Schmerzes.« Dann fischte er das

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