Das Jahr der Maus
meine Entscheidung. Ich gehe.«
Er verließ die Halle und trat auf die Straße hinaus. Seine Augen hatten das körnige schlaflose Aussehen, das ihn jetzt nie verließ. Er wußte, daß er imstande sein würde, die Müdigkeit eine Zeitlang zu bekämpfen, aber was für einen Sinn hatte das? Irgendwann mußte er einschlafen, und dann würde man kommen, um ihn von neuem zu töten.
Später in der Nacht blickte er auf das Foto seiner Frau neben dem Bett. Er spürte, wie ihm die Tränen kamen, und begann zu zittern.
»Vergib mir«, rief er. »Bitte, vergib mir, wenn du kannst.«
Rotverschiebung
Ist es nicht komisch, wie schwer man sich von falschen Vorstellungen löst? Stromlinienform. Alle Raumschiffe sollten stromlinienförmig sein, mit glänzenden, eisglatten Oberflächen. Wie in den Filmen. Man hat mir genug Naturwissenschaft beigebracht, daß ich weiß, wie lächerlich das ist, weil es im Weltraum keinen Luftwiderstand gibt – aber dennoch sieht diese Netzkonstruktion nicht so aus, als könnte sie sich schnell bewegen, ganz zu schweigen von der Überlichtgeschwindigkeit, die sie erreichen soll.
Natürlich können wir über den Zweck des Netzes nur raten. Es ist einfach in unserer Milchstraße aufgetaucht, vermutlich am Ende eines Hyperraumsprungs. Leer. Mit einer Reihe mathematischer Erklärungen, die wir als Einladung auslegten, diese Fahrt anzutreten. Wir nehmen an, daß dieses außerirdische Fahrzeug konstruiert wurde, um Vertreter der Menschheit zu einem großen Treffen zu bringen, aber wir wissen es nicht wirklich. Sind wir Botschafter der Menschheit oder einfach Sensationslüsterne in einem intergalaktischen Karnevalszug? Wer weiß?
Was auch immer der Fall ist, ich bin entschlossen, die Reise zu genießen.
Die Elastizität der Fadenwände fand ich wirklich faszinierend. Die Haut dehnt sich aus, wenn man dagegen drückt, daher ist es beinahe so, als gäbe es überhaupt keine Grenzen zwischen mir und den Sternen. Alle zwanzig von uns schweben bloß im Weltraum wie himmlische Lebewesen. Ich habe keine Ahnung, wie weit diese Elastizität geht. Die Fadenwände scheinen ein bißchen einem Ballon zu ähneln, aber keiner war erpicht darauf, sie wirklich auf die Probe zu stellen. Ich weiß nur, daß der Widerstand zunimmt, je stärker man nach außen drückt. Es sieht aus, als gäbe es eine Belastungsgrenze, aber mir steht nicht der Sinn danach, sie mit Gewalt festzustellen.
Wir alle haben die plumpen Raumanzüge abgelegt, die uns die Erdkontrolle mitgegeben hat. Großer Name, das! Erdkontrolle. Wir haben absolut keine Kontrolle über das Netz. Alles, was man erhoffen kann, ist die Verfolgung seiner Bewegung entlang des vorgegebenen Pfades und daß hoffentlich die Kommunikationen von uns zwanzig an Bord nicht ausbleiben.
Manchmal habe ich das Gefühl, als sei das bloß irgendein riesiges ferngelenktes Auto oder vielleicht ein Hyperraum-Transitfahrzeug. Nächster Stop …
Blauverschiebung
Der Himmel war wund und angeschwollen, als Christain auf dem offenen Feld stand. Bis zum Horizont erstreckte sich ein braunes Nichts. In der Ferne war ein kleines Gebäude zu sehen. Die Wolken stöhnten, über seinem Kopf zuckte ein Schaft von ockerfarbenem Licht. Der Himmel bebte, als würde er von einem monströsen Anfall erfaßt, und der schimmernde Regen begann zu fallen.
Als Christain der erste Tropfen traf, schrie er auf vor Schmerz und rannte los in Richtung des Unterstandes. Die Regentropfen durchbohrten ihn, brannten sich Schicht um Schicht durch seine Haut.
Der Regen. Diesmal war es der Regen selbst, der ihn töten würde.
Er stürzte zu Boden.
»Sie erklären mir ständig, daß dieser Nachhall, den ich habe, aufhören wird. Ich sterbe jede Nacht. Ich kann vor lauter Angst nicht einschlafen.«
»Hier geht es um Psychologie, Chris. Menschen reagieren auf verschiedene Weise.« Dr. Karies klickte einen Eintrag in seinem Handflächencomputer an.
Christain fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und schloß kurz die Augen, spürte den Sand auf der Innenseite seiner Augenlider. »Und Sie nennen das noch immer Reue- Therapie? Es ist eher eine Foltertherapie. Ich kann so nicht weitermachen.«
»Ihre Reaktion ist ein extremer Fall, Chris.«
»Gott, wie ich es hasse, wenn Sie mich immer beim Vornamen nennen. Das ist, als hielten Sie sich für einen Freund von mir, in Wahrheit sind Sie aber mein Gefängniswärter.«
»Nichts für ungut, Chris, aber das ist nicht fair. Sie wissen, das ist ein
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