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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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gewesen. Abgesehen von dem einen Feuerstoß in den Kopf des Revolutionswächters hinein war das Gewehr noch fabrikneu. Kaum in Anatolien angekommen wurde das Gewehr an einen Fünfzehnjährigen verteilt, der sehr stolz darauf war und diesen Stolz zusammen mit dem Gewehr wieder aufgab, als die türkische Armee sein Zeltlager mit deutschem Giftgas bombardierte, das Gewehr blieb davon unbeeindruckt, und da es der Nachbau einer Waffe war, die unter den Bedingungen des russischen Winters hatte funktionieren sollen, machte es ihm auch nichts aus, als es kurz darauf von einer türkischen Sondereinheit in deutscher ABC-Schutzkleidung aufgelesen, gereinigt, und wieder einmal auseinandergebaut und geölt wurde, auch danach noch funktionierte es einwandfrei. Allerdings mißtraute die türkische Armee allem, was nicht aus den USA oder Deutschland kam, auch hatten einige ihrer höchsten Offiziere Beraterverträge mit deutschen Waffenfirmen, so daß das Konkurrenzprodukt aus China, noch dazu eine Promenadenmischung, an die Polizei ging, zur besonderen Verwendung. Die besondere Verwendung bestand darin, daß das Gewehr als Staffage für eine gefälschte Nachrichtensendung herhielt, in der eine türkische Musikerfamilie, die zuvor eine Woche lang gefoltert worden war, hinter einem Tisch gezeigt wurde, auf dem rote Fahnen mit Hammer und Sichel, verschiedene kommunistische Druckerzeugnisse und Waffen, darunter das Gewehr, zu sehen waren; eine der Töchter mußte man von hinten stützen, denn sie war so schwer gefoltert worden, daß sie nicht mehr gehen konnte, außerdem würde sie in ihrem Leben keine Kinder haben. Sie hatte bisher vom Kommunismus nur vage Vorstellungen gehabt, wollte das aber in nächster Zeit ändern. Der Anführer der Sondereinheit, die die Musikerfamilie gefoltert hatte, hieß mit Decknamen ›Kapitän‹ und hatte ein Problem: Sein Kokainkonsum war in letzter Zeit beträchtlich gestiegen, und das Foltern wurde ihm so schwierig, rein vom Zittern der Hände her schon. ›Kapitän‹ verkaufte das Gewehr an irgendwen, durchaus im Wissen, daß er damit möglicherweise seinen Feinden die nötige Waffe in die Hände gegeben hatte, er hoffte bloß die Kunden seien nur kriminell und nicht ehemalige Opfer, oder deren Angehörige oder Freunde. Dem war zwar allerdings so, aber das Gewehr wurde doch nur zu einem einzigen Überfall auf einen Polizeiposten in der Stadt eingesetzt, den ›Kapitän‹ noch nie gesehen hatte, danach ging es auf verschwiegenen Wegen, teilweise im Gepäck eines Studenten, nach türkisch Kurdistan zurück, diesmal an die Schulter einer Neunzehnjährigen, die vor einem Monat noch einem westlichen Reporter im Libanon mit blitzenden Augen bekannt hatte, sie werde gern für ihr Vaterland sterben. Das tat sie dann auch, nicht ohne der türkischen Armee vorher noch als billiges sexuelles Opfer gedient zu haben, und das Gewehr, leergeschossen, seit Tagen nicht mehr gereinigt, noch mit den immer schwächer werdenden Schweißspuren seiner letzten Besitzerin an Griff und Rahmen, lag schon im Wasser eines kleinen Baches, der über das Geschehene nur unverständlich hinwegmurmelte. Und dort begann es langsam zu rosten …
     
    … was mich gar nichts angeht, denn mein Einsatzgebiet war Deutschland. Aber so etwas würde ich aufschreiben, damit mir der Wind es aus dem Fenster pflücken kann. Diese Bilder, die an meinen brennenden Augen vorüberziehen, sind nur flashbacks, nachdem mein eigentlicher Auftrag nun schon bald ein Jahr erfüllt ist. Es war einmal die Rede davon, daß es keine richtigen Aufträge mehr gäbe, ganz im Gegenteil weiß ich: Es sind ihrer so viele, daß man Mühe hat, den richtigen herauszufinden. Mir war das nicht schwer, ich wurde von meinem Auftrag herausgefunden.
     
    Es folgt das Märchen vom Teufel ohne Gold, ohne Haare. Das Schreiben an den jungen Mann sah märchenhaft amtlich aus: Er wurde also von einer undurchsichtigen Behörde (deren gab es im Königreich viele) zu einem Gespräch geladen. Der junge Mann, der sich seiner Männlichkeit noch nicht allzu sicher war, hatte sich noch nicht mit sehr viel Unbill in seinem kurzen Leben herumschlagen müssen, und deswegen zeigte er sich vom Tonfall des Schreibens, das mit besonderer Dringlichkeit zugestellt worden war, einigermaßen beeindruckt, rechtschaffen erschrocken. Der junge Mann wohnte noch bei seinen Eltern, und als er seinem Vater das Schreiben zeigte, konnte auch dieser nichts damit anfangen, runzelte aber eifrig die Stirn, wie

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