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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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nicht im geringsten überzeugt zu sein. Wenn man in einer Polis aufgewachsen war, die ›die verloren gegangenen Tugenden der Fleischlichen‹ hochzuhalten versuchte, klang das wahrscheinlich bestenfalls nach Selbstbetrug und schlimmstenfalls nach Selbstverstümmelung.
    »Können wir jetzt bitte zurückgehen? Mein Vater muß bald aufwachen.«
    »Natürlich.« Gisela suchte nach Worten, um diesem merkwürdigen, ernsten Kind aus seinem Stimmungstief zu helfen, doch sie wußte nicht, wie anfangen. So sprangen sie gemeinsam aus der Scape – aus ihren fiktiven Lichtkegeln – und verließen die Simulation, bevor diese offenbaren mußte, daß sie weder neue Erkenntnisse vermitteln, noch möglicherweise den Tod bringen konnte.
     
    Als Prospero aufwachte, stellte Gisela sich vor und fragte ihn, was er zu sehen wünsche. Sie schlug ihm ein Schema von Cartan Null vor. Es erschien ihr nicht gerade taktvoll, Cordelias Tour von Chandrasekhar zu erwähnen. Ihm eine Scape anzubieten, die beide noch nicht kannten, dünkte sie daher ein diplomatischer Weg, das Thema zu umgehen.
    Prospero lächelte nachsichtig. »Ich bin mir sicher, Ihre ›Fallende‹ Stadt ist ein genialer Entwurf, doch daran besteht meinerseits kein Interesse. Ich bin hier, um Ihre Motive einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen, und nicht Ihre Maschinen.«
    »Unsere Motive?« Gisela fragte sich, ob hier ein Übersetzungsfehler vorlag. »Uns interessiert die Struktur der Raumzeit. Welchen Grund gäbe es sonst, sich in ein Schwarzes Loch zu stürzen?«
    Prosperos Lächeln breitete sich über das ganze Gesicht aus. »Genau um das herauszufinden, habe ich diese Reise auf mich genommen. Eine ganze Bandbreite von möglichen Gründen steht zur Auswahl, neben dem Pandora-Mythos hätten wir da natürlich noch Prometheus, Quijote, den Gral … vielleicht sogar Orpheus. Hegen Sie die Hoffnung, die Toten zu retten?«
    »Die Toten zu retten?« Gisela war wie vor den Kopf gestoßen. »Oh, Sie meinen die Tiplerianische Wiederauferstehung? Nein, in der Hinsicht bestehen keine Pläne. Selbst wenn wir, was unwahrscheinlich ist, infinite Berechnungen anstellen könnten, würden unsere Informationen nicht ausreichen, um irgendwelche ausgewählten toten Fleischlichen wiederauferstehen zu lassen. Und andererseits aller Kraft daranzusetzen, alle wiederauferstehen zu lassen, indem man jedes denkbare, über ein Bewußtsein verfügende Wesen simuliert … es gibt keine Methode, die es erlaubt, mit Sicherheit im voraus jene Simulationen auszuschließen, die sich im Falle einer Wiedererweckung nur schrecklichen Qualen ausgesetzt sähen. Und nach statistischen Vorgaben würden sie den Rest im Verhältnis zehntausend zu eins übertreffen. So ein Vorhaben entspräche also nicht im entferntesten ethischen Maximen.«
    »Wir werden sehen«, schob Prospero ihre Einwände beiseite. »Für mich wäre es wichtig, alle Passagiere Charons sobald wie möglich zu treffen.«
    »Charons? Sie meinen das Sprungteam?«
    Prospero verzog gepeinigt das Gesicht, als fühle er sich mißverstanden, und schüttelte den Kopf, sagte jedoch: »Ja, holen Sie Ihr ›Sprungteam‹ zusammen. Lassen Sie mich zu Ihnen allen sprechen. Mir wird klar, wie sehr ich hier benötigt werde!«
    Nun verstand Gisela gar nichts mehr. »Benötigt? – Selbstverständlich sind Sie hier willkommen … aber in welcher Beziehung werden Sie benötigt?«
    Cordelia zupfte ihren Vater am Ärmel. »Können wir im Schloß warten? Ich bin so müde.« Sie vermied es, Gisela in die Augen zu blicken.
    »Natürlich, meine Liebe!« Prospero beugte sich zu ihr hinunter und küßte sie auf die Stirn. Er zog eine Pergamentrolle unter seinem Umhang hervor und warf sie in die Luft. Sie entrollte sich zu einem Tor, das über dem Ozean, neben dem Pier, schwebte und in eine von Sonnenlicht durchströmte Scape führte. Gisela konnte ausgedehnte, verwilderte Gartenanlagen erkennen, steinerne Gebäude und hoch in der Luft geflügelte Pferde. Es war lobenswert, daß sie ihr Gepäck besser komprimiert hatten als ihre Körper, sonst hätten sie die Gammastrahlenverbindung für die nächsten Jahre blockiert.
    Cordelia trat, Prospero an der Hand, durch den Torbogen und versuchte, ihn mit sich zu ziehen. Sie versuchte, wie Gisela schlagartig klar wurde, ihn zum Schweigen zu bringen, bevor er sie noch mehr in Verlegenheit brachte.
    Ohne Erfolg. Noch mit einem Fuß auf der Mole, wandte Prospero sich zu Gisela: »Warum ich benötigt werde? Ich bin hier, um euer Homer

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