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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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schmalen Ring gepreßtes Bild des gesamten Himmels. Und am inneren Rand dieses Ringes befindet sich ein kleinerer Ring, und so weiter – diese Ringe entstanden jeweils aus dem Licht, das das Loch einmal mehr umkreiste.«
    Cordelia dachte kurz darüber nach. »Aber das kann nicht endlos so weitergehen? Sonst würden doch irgendwann Diffraktionseffekte das Muster verschwimmen lassen?«
    Gisela nickte und versuchte, ihre Überraschung zu verbergen. »Ja. Aber das kann ich Ihnen hier nicht zeigen. Bei solchen Details ist diese Scape überfordert.«
    An der Drei-M-Hülle selbst hielten sie inne. Der Himmel war hier exakt halbiert: die eine Hälfte lag in vollkommener Dunkelheit, die andere war vollgepackt mit leuchtend blauen Sternen. An dieser Grenze wölbte sich der Halo wie eine in geradezu unglaublicher Weise nach geometrischen Regeln geordnete Milchstraße über die Kuppel. Kurz nach Cartans Ankunft hatte Gisela basierend auf dieser Aussicht eine Hommage an Escher gestaltet. Die Himmelshälfte war mit Dachschindeln ineinander übergehender Konstellationen bedeckt, die sich gegen den Rand zu in immer kleiner werdenden Kopien wiederholten. Mit den Ferngläsern auf 1000 X konnten sie ›in der Ferne‹ eine Art Silhouette der Plattform selbst sehen: ein dunkles Band, das nach allen Richtungen hin einen winzigen Teil des Halo verdeckte.
    Dann strebten sie weiter auf den Ereignishorizont zu – ohne einen Gedanken an die Gezeitenkräfte oder an die Schubkraft zu verschwenden, die sie benötigt hätten, um sich in der Realität derart gemütlich fortzubewegen.
    Die Sterne strahlten nun am hellsten in den ultravioletten Frequenzen, doch Gisela hatte dafür gesorgt, daß die Kuppel alles bis auf das für die Fleischlichen sichtbare Spektrum herausfilterte – falls Cordelias simulierte Haut die Beschreibungen der Strahlung zu wörtlich nehmen sollte. Als das gesamte ehemalige Himmelsgewölbe zu einer schmalen Scheibe zusammenschrumpfte, schien Chandrasekhar sich selbst um sie zu wickeln – und diese optische Täuschung war nicht ganz ohne. Hätten sie einen Lichtstrahl von dem Loch weggeschickt, dabei aber das winzige blaue Fenster verfehlt, hätte er sich – ähnlich der Flugbahn eines in die Höhe geschleuderten Steins – wieder umgekehrt und wäre in das Loch zurückgefallen. Einem festen Objekt erginge es dabei nicht anders, die Anzahl der möglichen Fluchtrouten schrumpfte schnell. Ein Hauch von Klaustrophobie streifte Gisela, bald würde sie diese Situation in der Wirklichkeit erleben.
    Wieder hielten sie inne, um – was jeder Plausibilität zuwider lief – genau über dem Horizont zu schweben, mit nur einer Nadelspitze voll blauverschobener Radiowellen hinter ihnen als Beleuchtung. Auf der Karte führte die Zukunft ihres Lichtkegels so gut wie unausweichlich in das Loch, wobei nur noch ein allerwinzigster Schlitz aus dem Zwei-M-Zylinder herauslugte. Gisela fragte: »Sollen wir durchgehen?«
    Cordelias Gesicht war in tiefes Violett getaucht. »Wie denn?«
    »Pure Simulation. So authentisch wie nur möglich … aber nicht so authentisch, daß wir eingefangen werden, das verspreche ich.«
    Cordelia breitete die Arme aus, schloß die Augen und tat so, als ließe sie sich nach hinten in das Loch fallen. Gisela wies die Plattform an, den Horizont zu überschreiten.
    Der kleine Himmelsfleck verschwand kurz, um gleich wieder aufzutauchen und sich schnell auszubreiten. Gisela verlangsamte die Zeit um das Millionenfache, in der Realität hätten sie die Singularität im Bruchteil einer Millisekunde erreicht.
    Cordelia fragte: »Können wir hier anhalten?«
    »Sie meinen, die Zeit einfrieren?«
    »Nein, nur hier verharren.«
    »Das tun wir doch bereits, wir bewegen uns ja nicht.« Gisela setzte die Evolution der Scape aus. »Ich habe die Zeit angehalten, ich denke, das war es, was Sie wollten.«
    Cordelia schien dazu etwas sagen zu wollen, zeigte dann aber statt dessen auf die erstarrten Sterne ringsum. »Draußen hatten alle Sterne denselben Blauton … aber jetzt leuchten die Sterne am Rand in einem viel intensiveren Blau. Das verstehe ich nicht.«
    »In gewisser Weise ist das nichts Neues. Würden wir uns im freien Fall auf das Loch zu bewegen, wären wir schnell genug, um, noch bevor wir den Ereignishorizont überschreiten, eine ganze Reihe von Dopplereffekten zu sehen, die die schwerkraftbedingte Blauverschiebung überlagern. Sagt Ihnen der Begriff Sternbogeneffekt etwas?«
    »Ja.« Cordelia wandte ihre Aufmerksamkeit

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