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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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wieder dem Himmel zu und Gisela konnte geradezu sehen, wie sie diese Erklärung überprüfte und sich vorstellte, wie wohl ein blauverschobener Sternenbogen aussehen mochte. »Aber das ergibt nur Sinn, wenn wir uns bewegen – und Sie sagten, wir bewegten uns nicht.«
    »Das tun wir auch nicht – entsprechend einer zweifelsfrei richtigen Definition, die draußen zutraf.« Gisela hob einen vertikalen Abschnitt ihrer Weltlinie hervor, wo sie an der Drei-M-Hülle angehalten hatten. »Außerhalb des Ereignishorizonts kann man – sofern man über einen ausreichend starken Antrieb verfügt – bei einer Hülle mit einer konstanten Gezeitenkraft stehenbleiben. Es ergibt also durchaus einen Sinn, das als Definition von ›bewegungslos‹ zu nehmen, womit die Zeit auf dieser Karte streng vertikal festgelegt ist. Doch innerhalb des Loches widerspricht dies vollkommen der Erfahrung. Die Neigung des Lichtkegels wird so stark, daß die Weltlinie notgedrungen die Hüllen durchschneiden muß. Und ›bewegungslos‹ läßt sich nun am einfachsten durch das Durchdringen der Hüllen definieren – das genaue Gegenteil von der vorherigen Definition, an ihnen zu verharren –, und damit wird die ›Kartenzeit‹ streng horizontal und auf das Zentrum des Loches hin ausgerichtet festgelegt.« Sie hob einen Abschnitt ihrer jetzt horizontalen Weltlinie hervor.
    Der fragende Ausdruck auf Cordelias Gesicht machte purer Verwunderung Platz. »Wenn der Lichtkegel sich also weit genug neigt … kippen die Definitionen von ›Raum‹ und ›Zeit‹ mit ihnen?«
    »Ja! Das Zentrum des Loches liegt jetzt in unserer Zukunft. Wir werden nicht Kopf voran auf die Singularität stoßen, wir werden Zukunft voran auf sie stoßen – das ist so, wie auf das Gegenstück des Urknalls, den Big Crunch, zu treffen. Und wenn diese Plattform vorher auf die Singularität ausgerichtet war, ist sie auf der Karte nun nach ›unten‹ ausgerichtet – was von außen aus gesehen die Vergangenheit des Loches zu sein scheint, in Wirklichkeit aber nichts als eine unermeßliche Raumstrecke ist. Vor uns liegen Milliarden von Lichtjahren – die in Raum umgewandelte gesamte Geschichte des Lochinneren – und dieser Raum expandiert, während wir uns der Singularität nähern. Wir haben nur das Problem, daß der Platz hier knapp wird. Von der Zeit gar nicht zu reden.«
    Cordelia starrte wie gebannt auf die Karte. »Dann befindet sich im Innern des Loches gar keine kugelförmige Hülle? Es ist eine kugelförmige Hülle, die sich in zwei Richtungen erstreckt, und die Geschichte der Hülle erstreckt sich in Raum umgewandelt in die dritte … damit ist das ganze die Oberfläche eines Hyperzylinders? Eines Hyperzylinders, dessen Länge sich vergrößert, während sein Radius schrumpft.« Plötzlich ging ein Leuchten über ihr Gesicht. »Und der blaue Schimmer ist derselbe blaue Schimmer, der entsteht, wenn das Universum sich zusammenzieht?« Sie wandte sich dem erstarrten Himmel zu. »Der Unterschied ist, daß dieser Raum hier sich in nur zwei Richtungen zusammenzieht – je stärker also der Winkel des Sternenlichts diesen zwei Richtungen entspricht, desto intensiver wirkt sein Blau?«
    »Richtig.« Inzwischen war Gisela nicht mehr überrascht darüber, wie mühelos Cordelia das alles verstand. Ein Rätsel war nur, warum sie sich nicht schon längst alles Wissenswerte über Schwarze Löcher angeeignet hatte. Mit ungehindertem Zugang zu einer einigermaßen ordentlichen Bibliothek und einer Einsteigersoftware müßte sie ihre Wissenslücken im Nu gefüllt haben. Aber wenn ihr Vater sie den ganzen Weg bis nach Cartan geschleppt hatte, nur damit sie den Planck-Sprung miterleben konnte, wie hatte er dann zulassen können, daß Athenas Kultur ihren Wissensdrang derart behinderte? Es ergab keinen Sinn.
    Cordelia hob das Fernglas an die Augen und blickte zur Seite, um das Loch herum. »Warum kann ich uns nicht sehen?«
    »Gute Frage.« Gisela zeichnete einen Lichtstrahl auf die Karte, lenkte ihn zur Seite, so daß er die Plattform verließ, kurz nachdem sie den Horizont passiert hatten. »An der Drei-M-Hülle wäre ein Strahl wie dieser einer Helix in der Raumzeit gefolgt und nach einer Umdrehung zu unserer Weltlinie zurückgekommen. Doch hier wurde die Helix umgedreht und zu einer Spirale zusammengedrückt – daher hat der Lichtstrahl im günstigsten Fall Zeit, das Loch halb zu umrunden, bevor er auf die Singularität trifft. Das Licht, das wir abstrahlten, nachdem wir den Horizont

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