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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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zu sein, euer Virgil, euer Dante, euer Dickens! Ich bin hier, um den Mythos aus diesem glorreichen, tragischen Vorhaben zu destillieren! Ich bin hier, um euch ein Geschenk zu gewähren, das die Unsterblichkeit, die ihr sucht, bei weitem übertrifft!«
    Gisela machte sich nicht die Mühe, noch einmal groß darzulegen, weshalb alles dafür sprach, daß ihre Lebenserwartung in dem Loch weit unter der außerhalb des Loches lag. »Was meinen Sie damit?«
    »Ich bin hier, um aus euch eine Legende zu machen!« Prospero verließ die Mole und das Tor kontrahierte sich hinter ihm.
    Gisela starrte einen Moment lang leeren Blickes hinaus auf den Ozean, bevor sie sich langsam hinsetzte und die Beine in das eisige Wasser baumeln ließ.
    Langsam begann sich so manches Rätsel zu lösen.
     
    »Sei nett«, bat Gisela. »Um Cordelias willen.«
    Timon spielte den tief Verletzten. »Wie kommst du nur darauf, ich wäre nicht nett?« Er schlüpfte kurz aus seinem gewöhnlichen eckigen Icon – einem gerippeähnlichen Gebilde aus einem Sammelsurium von Stäben – in einen knopfäugigen Teddybären.
    Gisela stöhnte leise auf. »Hör mir einmal zu. Wenn ich recht habe – wenn sie plant, nach Cartan auszuwandern –, ist das die schwerste Entscheidung, die sie je zu treffen hatte. Könnte sie so mir nichts, dir nichts aus Athena hinausmarschieren, hätte sie das längst getan – statt sich die Mühe zu machen, ihrem Vater einzureden, es sei seine Idee gewesen, hierher zu kommen.«
    »Warum bist du so sicher, daß es nicht seine Idee war?«
    »Prospero interessiert sich nicht im geringsten für die Wirklichkeit. Von dem Sprung kann er nur gehört haben, indem Cordelia seine Aufmerksamkeit darauf lenkte. Sie muß Cartan gewählt haben, weil es weit genug von der Erde entfernt ist, um einen Schlußstrich zu ziehen – und der Sprung gab ihr die Entschuldigung, die sie brauchte, genau das richtige Thema für die ›Talente‹ ihres Vaters, um ihn zu ködern. Aber bevor sie nicht bereit ist, ihm zu sagen, daß sie nicht mit ihm zurückgeht, dürfen wir ihn nicht vor den Kopf stoßen. Wir dürfen es ihr nicht noch schwerer machen, als es ohnehin schon für sie ist.«
    Timon rollte die Augen in seinem eloxierten Schädel. »Gut, gut! Ich spiele mit! Ich gehe davon aus, daß du, was ihre Motive angeht, nicht vollkommen daneben liegst. Doch wenn du dich irren solltest.«
    Genau diesen Augenblick wählte Prospero für seinen Auftritt in wehenden Gewändern, die Tochter im Schlepptau. Sie befanden sich in einer extra für diesen Anlaß nach Prosperos Vorgaben entworfenen Scape: einem Raum in der Form zweier abgestumpfter, an ihren Grundflächen verbundenen Pyramiden, ausgelegt in Weiß, mit einem Zwanzig-M-Blick auf Chandrasekhar durch ein trapezförmiges Fenster. Ein Stil, der Gisela vollkommen neu war. Timon hatte dafür den Ausdruck ›Athener Astrokitsch‹ geprägt.
    Die fünf Mitglieder des Sprungteams saßen um einen halbkreisförmigen Tisch. Prospero stand vor ihnen, während Gisela die Anwesenden vorstellte: Sachio, Tiet, Vikram, Timon. Sie hatte bereits mit allen gesprochen, aber Timons halbherziges Entgegenkommen war bislang das einer Garantie am nächsten kommende, das sie erreicht hatte. Cordelia verkroch sich, den Blick gesenkt, in eine Ecke.
    Prospero begann sachlich. »Schon nahezu tausend Jahre leben wir, die Abkommen der Fleischlichen, unser Leben gehüllt in Träume von längst vergangenen Heldentaten. Doch vergebens träumten wir von einer neuen Odyssee, uns zu inspirieren, von neuen Helden, die neben den alten standhalten, von neuen Weisen, die ewigen Mythen zu erzählen. Wären drei Tage mehr verstrichen, wäre Eure Reise vergebens gewesen, für uns auf ewig verloren.« Er lächelte stolz. »Aber ich kam rechtzeitig, um Eure Geschichte den zermalmenden Kiefern der Schwerkraft zu entreißen!«
    Tiet meinte: »Nichts lief Gefahr, verloren zu gehen. Die Informationen über den Sprung werden in jede Polis hin ausgestrahlt, in jeder Bibliothek gespeichert.« Tiets Icon erinnerte an eine aus Elfenbein geschnitzte, schimmernde, juwelenbesetzte Statue.
    Prospero winkte ab. »Ein endloser Fluß von Technikjargon. In Athena könnte das genauso gut das Geplätscher von Wellen sein.«
    Tiet hob eine Augenbraue. »Falls euer Vokabular so beschränkt ist, dann arbeitet daran – und erwartet nicht von uns, uns in unserer Wortwahl zu beschränken. Würden Sie in einem Bericht über das klassische Griechenland keinen einzigen Stadtstaat

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