Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke

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nicht nur Künstler, sondern ein ebenso guter Handwerker. Auch aus unvollkommenem Lehm läßt sich ein Kunstwerk formen.«
    Als die Versammlung aufbrach, versuchte Timon Gisela zur Rede zu stellen. Bevor er jedoch lospoltern konnte, fiel sie ihm ins Wort: »Falls du glaubst, noch drei Tage dieser Art seien zu schrecklich, dann denke einmal darüber nach, was Cordelia auszuhalten hat.«
    Timon schüttelte den Kopf. »Ich halte mein Versprechen. Aber jetzt, nachdem ich gesehen habe, womit sie es zu tun hat … Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie dagegen ankommt. Wenn sie ihr ganzes Leben lang mit Propaganda über das goldene Zeitalter der Fleischlichen vollgedröhnt wurde, wie sollte sie das dann noch durchschauen können? Eine Polis wie Athena bildet eine memetische Falle: man konzentriere eine ausreichende Menge Prosperos an einem Ort und es gibt kein Entrinnen.«
    Gisela durchbohrte ihn mit ihren Blicken. »Sie ist hier, oder etwa nicht? Versuche nicht mir zu erzählen, daß sie für immer und ewig an Athena gebunden ist, nur weil sie dort geschaffen wurde. So einfach ist das nicht. Selbst Schwarze Löcher geben Hawkingstrahlung ab.«
    »Hawkingstrahlung enthält keine Information. Sie ist thermisches Rauschen, damit kann man sich nicht hinausgraben.« Timon beschrieb mit zwei Fingern eine diagonale Linie – die Geste für ›QED‹.
    Gisela widersprach: »Das ist nur eine Metapher, du Blödmann, kein Isomorphismus. Falls dir der Unterschied nicht klar ist, solltest du dich vielleicht selbst schleunigst nach Athena verziehen.«
    Timon zog grinsend die Hand zurück, als habe ihn etwas gebissen, bevor er verschwand.
    Gisela blickte sich in der leeren Scape um. Sie ärgerte sich, daß ihre Wut so mit ihr durchgegangen war. Vor dem Fenster zermalmte Chandrasekhar unberührt weiter die Raumzeit, wie in den letzten sechs Milliarden Jahren.
    Leise murmelte Gisela: »Hoffentlich irrst du dich.«

    Fünfzig Stunden vor dem Sprung wies Vikram die Sonden in den untersten Umlaufbahnen an, Nanomaschinen durch den Ereignishorizont zu entsenden. Gisela und Cordelia suchten ihn in der Steuerscape auf, einem weiträumigen Saal, vollgestopft mit Karten und Geräten zur Steuerung der über ganz Chandrasekhar verstreuten Hardware. Prospero befragte gerade Timon, eine Tortur, die Vikram soeben über sich hatte ergehen lassen. ›Ödipale Bedürfnisse‹ und ›Gebärmutter/Vagina-Symbolismus‹ hatten dabei eine bedeutende Rolle gespielt, ungeachtet der Überzeugungskraft, mit der Vikram Prospero erklärt hatte, daß seines Wissens niemand auf Cartan bislang Interesse an einem dieser Organe gezeigt habe. Gisela fragte sich insgeheim, wie Cordelia wohl entstanden war. Die Vorstellung einer sklavischen Simulation einer fleischlichen Geburt war schier unerträglich.
    Die Nanomaschinen bestanden aus nur einer winzigen Spur Materie, ein paar Tonnen pro Sekunde. Doch tief drinnen im Loch würden sie die Krümmung messen – wobei sie sowohl das Sternenlicht, als auch die Signale der ihnen folgenden Nanomaschinen heranziehen würden –, um darauf ihre eigene kollektive Massenverteilung so zu modifizieren, daß sich die zukünftige Geometrie des Loches der Zielvorstellung annäherte. Jede Abweichung vom freien Fall bedeutete die Abgabe molekularer Fragmente und damit die Opferung chemischer Energie. Vor ihrer eigenen endgültigen Auflösung jedoch würden sie zur Erfüllung derselben Aufgabe in einem kleineren Maßstab photonische Maschinen freisetzen.
    Man konnte unmöglich wissen, ob all dies so funktionieren würde, wie es geplant war. Aber eine Karte in der Scape zeigte das erwünschte Ergebnis. Vikram skizzierte darin zwei sich gegeneinander drehende Lichtbündel. »Wir können nichts dagegen tun, daß der Raum in zwei Richtungen kollabiert und sich in der dritten ausbreitet. Es sei denn, wir würden soviel Materie hineinwerfen, daß der Raum in alle drei Richtungen zusammenstürzt, was noch schlimmer wäre. Aber es ist möglich, die Richtung der Ausbreitung zu ändern, sie immer wieder um neunzig Grad zu drehen, und so einen Ausgleich zu schaffen. Dadurch kann das Licht einige Umlaufbahnen vollkommen zurücklegen – wobei jede in einem Hundertstel der Zeit zurückgelegt wird, die für die vorherige benötigt wurde – und das bringt auch die Strahlen übergreifende periodische Kontraktionen mit sich, die wiederum den defokussierenden Effekten der Erweiterungsperioden entgegenwirken.«
    Die beiden Lichtbündel oszillierten