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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Skala war falsch. Das Experiment erstreckte sich über einen zu großen Abschnitt.
    Vikram stieß einen Freudenschrei aus und schlug einen Salto rückwärts. »Da sind Weltlinien, die sich zwischen den Netzwerken überschneiden! Das ist die Ursache für die Phasen!« Ohne dem ein Wort hinzuzufügen, stürzte er sich wie ein Verrückter in die Arbeit, skizzierte Diagramme in die Luft, startete Softwareprogramme, ließ Simulationen laufen. Binnen kurzem war er hinter seinen Displays und Apparaten beinahe verschwunden.
    Ein Fenster zeigte eine Simulation eines Interferenzmusters, die haargenau den Daten entsprach. Kurz flammte in Gisela Eifersucht auf – sie war so nahe daran gewesen, sie hätte die erste sein müssen. Dann betrachtete sie sich die Ergebnisse genauer, und das Gefühl löste sich in Nichts auf. Das hier war so elegant, so schön, es war richtig. Und wer die Lösung entdeckt hatte, spielte keine Rolle.
    Cordelia wirkte verwirrt, allein gelassen. Vikram kam hinter dem Durcheinander hervor, das er geschaffen hatte, und überließ es den anderen, damit klarzukommen. Er nahm Cordelia bei den Händen und tanzte mit ihr durch die Scape. »Die zentrale Frage der Quantenmechanik war immer: warum kann man nicht einfach berechnen, was geschieht? Warum muß man jeder Alternative eine Phase zuweisen, damit diese sich gegenseitig aufheben, beziehungsweise verstärken können? Wir kannten die Regeln, nach denen wir vorgehen mußten, wir kannten die Konsequenzen – aber wir hatten nicht die geringste Ahnung, was Phasen sind oder woher sie kommen.« Er hörte auf zu tanzen und erstellte einen Stapel Feynman-Diagramme, fünf übereinander gelegte Alternativen desselben Prozesses. »Sie entstehen genauso wie jede andere Beziehung: gemeinsame Verbindungen zu einem größeren Netzwerk.« Er fügte einige hundert virtuelle Teilchen hinzu, die zwischen den zuvor getrennten Diagrammen hin- und hersausten. »Es ist wie ein Spin. Haben die Netzwerke im Raum Richtungen gebildet, die die Spins zweier Teilchen parallel werden lassen, werden sie, wenn sie kombiniert werden, einfach zusammengefügt. Sind sie dagegen anti-parallel, ihre Richtungen also gegensätzlich, heben sie sich auf. Bei der Phase ist es genauso, aber sie wirkt wie ein Winkel in zwei Dimensionen und mit jedem Quantenfaktor: Spin, Ladung, Farbe, einfach allem … sind zwei Komponenten total phasenverschoben, verschwinden sie vollkommen.«
    Gisela sah zu, wie Cordelia in das geschichtete Diagramm faßte, die Bahn zweier Komponenten verfolgte und langsam zu verstehen begann. Sie hatten keine den Quantenfaktoren zugrundeliegende tiefere Struktur gefunden, was sie ursprünglich gehofft hatten. Doch sie hatten begriffen, daß allem, was das Universum aus diesen unteilbaren Fäden schuf, ein einziges riesiges Netzwerk von Weltlinien zugrundelag.
    Reichte ihr das? Ihr ursprüngliches, um geistige Gesundheit kämpfendes Selbst in Athena mochte vielleicht Trost daraus ziehen, daß ihr Sprung-Klon Zeuge eines solchen Durchbruchs wurde – aber würde das alles angesichts des Todes für den Zeugen zu purer Makulatur werden? Gisela spürte selbst einen Anflug von Zweifel, obwohl sie dieses Thema mit Timon und den anderen jahrhundertelang durchdiskutiert hatte. Würde alles, was sie in diesem Augenblick empfand, bedeutungslos werden, nur weil es keine Möglichkeit gab, diese Erfahrung zurück in die weitere Welt zu tragen? Unleugbar wäre es besser gewesen, sie hätte die Möglichkeit gehabt, mit ihren anderen Selbsts in Verbindung zu treten, ihren entfernten Familienangehörigen und Freunden mitzuteilen, was sie herausgefunden hatten, und die Auswirkungen ihrer Erkenntnisse über die Jahrtausende hindurch zu verfolgen.
    Andererseits sah sich das ganze Universum demselben Schicksal ausgesetzt. Die Zeit war gequantelt, es bestand keine Aussicht auf eine infinite Berechnung vor dem Big Crunch, wenn sie alle zermalmt würden, für niemanden. Wenn alles, was eine Ende hatte, nichtig war, hatte ihnen der Sprung nur die lange falsche Hoffnung auf Unsterblichkeit erspart. Falls jeder Moment für sich selbst stand, konnte ihnen niemand ihr Glück rauben.
    Die Wahrheit lag, natürlich, irgendwo in der Mitte.
    Glückstrahlend trat Timon auf sie zu. »Worüber zerbrichst du dir den Kopf?«
    Sie griff nach seiner Hand. »Über kleine Netzwerke.«
    Cordelia wandte sich an Vikram: »Jetzt, wo du genau weißt, was eine Phase ist und wie sie Wahrscheinlichkeiten determiniert … wäre es da

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