Das Jahr der Maus
zusammenbrechen?«
Vikram wirkte getroffen. Gisela warf ein: »Seien Sie fair. Wir kennen Sie erst seit drei Tagen. Wir wissen nicht, was wir zu erwarten haben.«
»Nein.« Cordelia blickte hoch zu dem stilisierten Bild des Strahls, ihrer Chiffre, in dem es nun nur so wimmelte von Photonen und Mesonen. »Aber ich werde Euch den Sprung nicht kaputtmachen. Wollte ich düsteren Gedanken über den Tod nachhängen, hätte ich zu Hause bleiben und schlechte Gedichte der Fleischlichen lesen können.« Sie lächelte. »Baudelaire kann mich mal. Ich bin hier um der Physik willen.«
Alle versammelten sich um ein einziges Fenster, als der Moment der Wahrheit, was das Kumar-Modell anging, kam. Die hier angezeigten Daten stammten aus einem im Grunde genommenen Doppel-Spalt-Interferenz-Experiment, das dadurch kompliziert wurde, daß es ohne etwas durchgeführt werden mußte, was auch nur im geringsten an feste Materie erinnerte. Ein sinusförmiges Muster zeigte die Anzahl der in einem Abschnitt entdeckten Teilchen, in dem sich ein Elektronenstrahl mit sich selbst vereinigte, nachdem er zwei verschiedene Bahnen zurückgelegt hatte. Da es nur eine finite Anzahl geeigneter Untersuchungsabschnitte abgab und jede Zählung eine ganze Zahl ergeben mußte, war das Muster bereits ›gequantelt‹, was die Analysesoftware jedoch bereits berücksichtigte. Zudem reichten die Zahlen, um ein glattes Bild zu ergeben. Bei einer bestimmten Wellenlänge jedoch würden sich echte Planck-Skalen-Effekte über diese Artefakte hinwegsetzen und, sobald sie einmal aufgetreten waren, immer stärker werden.
Die Software meldete, auf etwas gestoßen zu sein, und zoomte in das Bild hinein, um eine leichte Stufenbildung in der Kurve deutlicher hervortreten zu lassen. Anfangs war diese Stufenbildung noch so leicht, daß Gisela der Programmeldung vertrauen mußte, es handle sich nicht um das übliche, unvermeidliche Flattern. Dann wurden die winzigen Stufen deutlich größer, waren statt zwei Pixel drei hoch. Drei benachbarte Untersuchungsabschnitte, die kurz zuvor noch unterschiedliche Teilchenwerte geliefert hatten, schickten nun identische Ergebnisse. Das gesamte System war so weit geschrumpft, daß die Elektronen die beteiligten Bahnlängen nicht mehr unterscheiden konnten.
Gisela war außer sich vor Freude, doch dann kam ein Nachgeschmack von Angst. Sie streckten die Hand nach dem Webmuster des Vakuums aus. Diesen Triumph hatten sie bisher überlebt, aber ihr Abstieg war mit ziemlicher Sicherheit nicht mehr aufzuhalten.
Die Stufen wurden größer, das Bild zoomte etwas heraus, um die Kurve deutlicher hervortreten zu lassen. Vikram und Tiet schrien gleichzeitig auf, kurz bevor die Analysesoftware die strengen statistischen Tests zu seiner Zufriedenheit abgeschlossen hatte. Vikram wiederholte leise: »Das ist falsch.« Tiet nickte und wandte sich an die Software: »Zeige uns die Phasenstruktur einer einzelnen Welle.« Das Display änderte sich, eine lineare Treppe erschien. Es war unmöglich, die sich ändernden Phasen einer einzelnen Welle direkt zu messen, aber wenn man annahm, daß die zwei Versionen eines Strahls sich identisch veränderten, entsprach dies der Progression, die das Interferenzmuster nahelegte.
Tiet erklärte: »Das stimmt nicht mit dem Kumar-Modell überein. Die Phase ist gequantelt, aber die Stufen sind nicht gleich – oder wenigstens zufällig groß, wie beim Santini-Modell. Sie sind über die ganze Welle hinweg zyklisch strukturiert. Kürzer, höher, wieder kürzer …«
Schweigen senkte sich über sie. Einerseits in Hochstimmung, auf etwas Unerwartetes gestoßen zu sein, andererseits voller Angst, dieses Rätsel vielleicht nicht lösen zu können, starrte Gisela auf das Muster und bemühte sich verzweifelt, sich zu konzentrieren. Warum kamen die Phasenwechsel nicht gleichmäßig? Dieses zyklische Muster verletzte jede Symmetrie, es erlaubte, die Phase mit dem kleinsten Quantenschritt als eine Art festen Richtwert zu nehmen – einen Gedanken, den die Quantenmechanik stets als ebenso irrelevant erklärt hatte wie die Auswahl einer Richtung im leeren Raum.
Aber die Rotationssymmetrie war nicht vollkommen: in ausreichend kleinen Netzwerken war die gewöhnliche Aussage, alle Richtungen sähen gleich aus, nicht mehr aufrechtzuerhalten. Wie lautete die Antwort? Die Winkel, die die zwei Strahlen einnehmen mußten, wollten sie den Detektor erreichen, waren selbst gequantelt. Und dieser Effekt überlagert die Phase?
Nein. Die ganze
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