Das Jahr der Maus
dich um! Mach sofort Schluß!« Ein kurzer Seitenzweig, der abgeschnitten wurde, bevor die Zeit für eine Persönlichkeitsdivergenz ausreichte, konnte kaum als echtes Leben und echter Tod gezählt werden. Es war nicht viel mehr als ein vergessener Traum.
Doch diese Analyse traf nicht zu. Von dem ersten Augenblick ihrer Bewußtseinswerdung an war diese Cordelia eine eigenständige Person: die Person, die Athena für immer hinter sich gelassen hatte, die entkommen war. Ihr erweitertes Selbst hatte in diesen Klon viel zu viel investiert, um das ganze nun als Fehler zu verbuchen und abzuschreiben. Über die Wünsche und Hoffnungen hinaus, die dieser Klon für sich selbst hegte, war ihm vollkommen klar, was seine Existenz für das Original bedeutete. Diese Erwartungen zu enttäuschen, auch wenn dieser Verrat niemals entdeckt werden könnte, war undenkbar.
Mit einem scharfen Unterton in der Stimme fragte Tiet sie: »Du hast ihr doch nicht etwa Hoffnungen gemacht?«
Gisela ließ ihre Gespräche im Geist Revue passieren. »Ich glaube nicht. Sie muß sich darüber im klaren sein, daß so gut wie keine Überlebenschance besteht.«
Timon seufzte ungeduldig. »Sie ist hier. Das läßt sich nicht mehr rückgängig machen. Es hat keinen Zweck, deshalb lange rumzujammern. Wir können nur eins tun, ihr die Chance geben, soviel wie möglich aus dieser Erfahrung zu machen.«
Ein schrecklicher Gedanke traf Gisela wie ein Blitz: »Wir sind doch wegen der zusätzlichen Daten nicht überladen? Haben uns deshalb den Zugang zur vollen Rechnerleistung verbaut?« Cordelia hatte sich zu einem weitaus schlankeren Programm komprimiert, als es die Version gewesen war, die sie von der Erde geschickt hatte. Aber dennoch war es eine zusätzliche Last.
Leicht entrüstet erwiderte Sachio: »Wie schlecht, denkst du eigentlich, mache ich meine Arbeit? Mir war klar, irgend jemand würde mehr Daten mitbringen als abgemacht. Ich habe eine hundertfache Sicherheitsspanne eingeplant. Ein blinder Passagier fällt nicht ins Gewicht.«
Timon berührte Gisela am Arm. »Sieh mal.« Cordelia hatte sich endlich genug beruhigt, um ihre Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen. Die primären Strahlen, die Infrastruktur für ihre ganzen Berechnungen, waren bereits blauverschoben zu harten Gammastrahlen und die kollidierenden Photone schufen Paare relativistischer Elektronen und Positronen. Zusätzlich sondierte ein Bereich experimenteller Strahlen mit kürzerer Wellenlänge die Physik der zehntausendmal kleineren Längsskalen – eine Physik, die eine subjektive Stunde später für die primären Skalen gelten würde. Cordelia fand das Fenster mit den Hauptergebnissen dieser Strahlen. Sie drehte sich um und rief: »Eine Menge Mesotrone voller Top- und Bottom-Quarks vor uns, aber nichts Unerwartetes!«
»Gut!« Gisela spürte, wie sich der Knoten von Angst und Schuld in ihr zu lösen begann. Cordelia hatte sich aus freien Stücken für den Sprung entschieden, genau wie alle anderen hier. Aus der Tatsache, daß ihr diese Entscheidung nicht leicht gefallen war, konnte man nicht schließen, daß sie sie bedauern würde.
Timon bemerkte: »Du hast recht, ich habe mich geirrt. Sie hat den Absprung aus Athena geschafft.«
»Ja. Soviel zu deiner Theorie von geschlossenen memetischen Fallen.« Gisela lachte. »Schade, daß das nur eine Metapher war.«
»Warum? Ich dachte, du wärst überglücklich, daß sie es geschafft hat.«
»Das bin ich auch. Es ist nur traurig, daß sich daraus nichts über unsere eigenen Chancen, hier zu entkommen, folgern läßt.«
Jede Umlaufbahn ließ ihnen dreißig Minuten subjektive Zeit, während die wahren Längs- und Zeitskalen Cartan Nulls sich um das Hundertfache verringerten. Sachio und Tiet beaufsichtigten die Arbeitsweise der Polis, überprüften ständig die Integrität der ›Hardware‹, während neue Teilchenarten in die Impulsserien eingingen. Timon überprüfte verschiedene Methoden, Information in neue Modi nebenzuschließen, falls sich die Gelegenheit dazu böte. Gisela bemühte sich, Cordelia mit einzubeziehen. Und Vikram, dessen Schwerpunkt die Nanomaschinen gewesen waren, half ihr dabei.
Die Strahlen mit der kürzesten Wellenlänge rekapitulierten noch immer die Ergebnisse der alten Teilchenbeschleunigerexperimente. Die drei brüteten gemeinsam über den Daten. Gisela faßte sie so gut zusammen, wie sie konnte: »Ladung und andere Quantenfaktoren generieren eine Art Winkel zwischen den Weltlinien in den Netzwerken,
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