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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Diambálo über die Gruppe der Heranwachsenden meiner Mutanten seine schützende Hand.
    Vermutlich unter seinem Einfluß wurde die sexuelle Beiwohnung in der von ihm als einzig-anständig eingestuften, puritanisch-protestantischen Missionarsstellung zur ausschließlichen und sozial akzeptierten Methode der koitalen Vereinigung. Die Phasen von Brunft und Fruchtbarkeit spielen keine Rolle mehr. Es wird daher ständig exzessiv kopuliert. Der Versuch, diesem Ausleben triebhafter Lust mit Gefühlen von Schuld, Scham, Sünde und Reue zu begegnen, gilt allerdings noch nicht als gescheitert.
    Auf Anweisung der Regierung dieser ehemals französischen Kolonie mit ihrer christlichen Tradition, trotz einer langen Phase als sozialistische Volksrepublik chinesischen Musters, wurden sowohl alle Kreaturen, die mein Labor erzeugte, wie auch deren Nachkommen, in der französischen Mission in Diambálo von Pater Levebre umgehend und persönlich getauft.
    Ich habe keine Vorurteile oder Einwände gegenüber solchen naiven, ursprünglich heidnischen Ritualen. Weihwasser schadet nicht, befriedigt gewisse archaische Bedenken hinsichtlich böser Geister, und stiftet freudige Familienfeste.
    Es gibt also keinerlei Anlaß mehr, meinen Mutanten die Privilegien der Human Rights-Akte, der Allgemeinen Menschenrechte nach Artikel 1 Nummer 3,55 der UNO-Satzung als Grundrecht zu verweigern. Es handelt sich schließlich um getaufte Christen, die Pater Levebre frühzeitig im Evangelium unterwiesen hat.
    Die Begabtesten schwärmten aus bis hinein in die Savannen von Zaire und Angola, um als Missionare den gewöhnlichen Schimpansen die Heilsbotschaft zu verkünden.
    Ich erinnere an die Videoaufnahme einer mutierten Nonne, vorgeführt hier vor Gericht, die mit beglücktem Gesicht aus dem Gedächtnis die Schrift zitierte.
    Was der Herr Chefankläger abfällig als widerliche Pfeif- und Grunzlaute bezeichnete, war der berühmte Psalm: ›Meine Augen blicken auf zu den Höhen von wo mir Heil und Hilfe zuteil wird.‹
    Wie mag die Predigt eines Bartolomé de Las Casas, der als Priester Christopher Columbus auf seiner zweiten Reise begleitet hat, in den Ohren der armen Indios geklungen haben, als er gegen die Sünde wetterte und mit ewigen Höllenstrafen drohte. Obwohl Spanisch eigentlich eine sehr melodiöse Sprache ist.
    Die junge Missionarin las auch die politisch umstrittene Stelle aus dem Brief des Apostel Paulus an die Römer, Kapitel 13: ›Jedermann ist Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat … wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet!‹
    Dieses Zitat hat uns das Wohlwollen der Regierung gesichert.
    Zahllose Nachkommen der männlichen, jüngeren Generation zog es daher während ihrer spätpubertären Trotzphase in die von der Obrigkeit festbesoldeten Reihen des Polizeikorps und der offiziellen Regierungsarmee der Republik Kongo, um in kleidsamer Uniform für Gesetz und Ordnung zu kämpfen.
    Unglücklicherweise, und unter Fehleinschätzung der legalen und damit gottgewollten Gewalt, fanden ebenso viele Gefallen daran, sich den Truppen der Aufständischen anzuschließen, die dem Heer des Präsidenten, sowohl im Brandschatzen wie im Plündern und Vergewaltigen, weit überlegen sind.
    Der aufopfernde Dienst an der Waffe, der Wunsch für die Fahne, für den jeweiligen Präsidenten oder für das geliebte Vaterland zu sterben, ist aber nur eine der vielen Segnungen der genetisch erworbenen Vernunft.
    In ihren dunkelblauen Schuluniformen, die rechte Hand auf dem Herzen, den Blick hinauf zur Fahne gerichtet, intonieren bereits die Jüngsten jeden Morgen mit schnarrenden Lauten die Hymne der Nation als Bekenntnis zur Solidarität mit ihrer Republik, mit ihrem Staat.
    Zusätzlich zur christlichen Botschaft, und diese manchmal dominierend, erfinden sich meine Kreaturen phantasiereiche Mythen von Göttern, Götzen und Dämonen sowie bizarre Riten.
    Sie erklären sich damit die Welt, Naturphänomene wie Blitz und Donner, Überschwemmungen und Dürre, Angst, Liebe und Tod sowie die hierarchischen Strukturen von Macht und Unterwerfung.
    Zwangsläufig verändern sich diese Legenden während ihrer mündlichen Überlieferung schon nach sehr kurzer Zeit.
    Um die eigentliche Wahrheit dieses weitgefächerten, primitiven Aberglaubens wird dann erbittert gestritten und gekämpft bis hin zu Mord und Totschlag, verbrämt als Heldentod. Ein Umstand, den ich zutiefst bedauere, aber nicht verhindern kann.
    Der Tod an sich, der triviale, banale Tod, von

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