Das Jahr der Maus
über den Monitor. Ein paar Worte konnte sie ausmachen. Songfeast, Seele, See, Strafe …
Ihr Computer fing an, sich zu verhaspeln: Sinuhe, Selene, Senele …
Eamon, sagte sich Billie. Ich habe ihn in den Systemordner gesteckt. Eamon ist dafür verantwortlich. Mein Eamon, und nicht der ihre.
In einem weiteren Fenster schneiten Nummern wie in einem Blizzard vorbei. Dann flackerte das Bild, und die Ziffern verschwanden.
ZUGRIFF AUF DAS SYSTEM GEWÄHRT
Eine Reihe von Dateien stand zur Auswahl: SIM 1, SIM 2. Hastig kopierte sie sie auf ihre eigene Diskette. FUTURES lautete ein Folder.
Die Dateien trugen Bezeichnungen wie TRENDS, TITEL. EAMON.
Sie fragte EAMON ab, doch der Inhalt des Speichers war codiert. Außerdem schickte ihr eigenes Gerät ihr eine Mitteilung:
BILLIE, SCHÄTZCHEN, SCHALT AB!
Das ist der richtige, dachte sie aufgeregt. Das ist der richtige Eamon.
ICH MEINE ES ERNST. SIE WISSEN, DASS WIR HIER SIND
Sie erlebte eine flüchtige Anwandlung von Panik, dann fühlte sie sich wieder sicher.
»Erstelle eine Kopie vom Dateiverzeichnis E Male File Letter 76. Danach speicherst du ab«, sagte sie.
Es erschien ein Fenster, ein Dateiverzeichnis, und dann entspann sich ein geisterhafter Tanz, als sich die Datenfiles verdunkelten und wieder öffneten, wie bei einem Pas de deux eines hingebungsvollen Liebespaares.
Unvermittelt stürzte das Licht ab, der Schirm wurde schwarz; intelligente Informationen verwirbelten sich zu Pirouetten, bis sie Metaphern glichen, die sich wiederum in ein Nichts auflösten. Mit zitternden Händen faßte Billie hinter den Computer und zog den Modem-Stecker heraus.
Haben wir es geschafft?
»Schalt dich wieder ein«, befahl sie.
Fing, trällerte die Maschine.
Sie wußte nicht, wie sie fragen sollte, ob man sie erwischt hätte. Auf herkömmliche Weise öffnete sie ihr Dateiverzeichnis. Die Memison Files, die sie hatte retten wollen, waren nicht da. Ob sie gelöscht worden sind, fragte sich Billie. Durch den übereilten Exit, oder von Eamon? Saß etwa der sprichwörtliche Kobold in der Maschine?
»Wie lautet das Paßwort?« erkundigte sie sich. Es erschienen Zahlen: 5 1 13 15 14. Die Buchstaben, aus denen sich Eamons Name zusammensetzte, in ihrer alphabetischen Reihenfolge. »Gerettet«, sagte sie zu der Maschine und zu sich selbst.
Sie verlangte E Male, E für Eamon, und las den Brief, den sie abgeschickt hatte.
Eamon
ich bedeute Dir nichts, für Dich bin ich weniger als Luft, nicht einmal ein geflüstertes Wort, und dennoch kreist mein Leben nur um Dich. Wenn ich Dein Bild sehe, setzt mein Herz ein paar Schläge aus, und ich schaue Dich an, bis ich am liebsten sterben möchte. Du bist mein Herz, Eamon. Heißt das, daß ich ohne Dich nicht leben kann? Manchmal glaube ich, daß es so ist. Wenn mein Herz nur aufhören würde zu schlagen, fände mein Schmerz ein Ende.
Weißt Du eigentlich, wie demütigend das ist? Ich erlebe es täglich aufs neue, Eamon. Die Zeitungen, die Videos, die Manager der Musikverlage – sie tun uns das in voller Absicht an. Sie führen uns Männer wie Dich vor, und was bleibt uns gewöhnlichen Menschen in dieser trostlosen Welt anderes übrig, als Dich zu lieben? Und je weniger wir von Dir zu hören und zu sehen bekommen, um so mehr verzehren wir uns nach Dir. In der Realität hätte ich Dich entweder bekommen, Eamon, oder Du hättest mir eine Abfuhr erteilt. Egal, was passiert wäre, mittlerweile wäre ich darüber hinweg. Ich hätte mich daran gewöhnt. Vielleicht wäre ich Deiner sogar überdrüssig geworden. Doch solange Du nur in meiner Phantasie für mich erreichbar bist, könnte so etwas nie geschehen. Ich bin verliebt in Dich wie am ersten Tag, und meine Liebe hat kein Ventil, kann sich nicht verschleißen.
Doch jetzt kaufe ich keine Bücher oder Platten mehr von Dir, Eamon. Ich kann diesen Zustand nicht länger ertragen. Du hast Dich von mir zu weit entfernt. Die Software-Kopien gehen langsam kaputt und verwandeln Dich in jemand anderen. Einmal möchte ich Dich persönlich kennenlernen, Eamon. Ich will Dich sehen, einen Mann in mittleren Jahren, mit vernarbtem Gesicht und einem etwas kauzigen Auftreten. Mit weniger gebe ich mich nicht zufrieden. Ich bin es leid, ständig vertröstet zu werden.
Doch dahinter steckt eine Absicht, eine Methode. Man will uns süchtig nach Dir machen. Kannst Du nichts dagegen unternehmen? Bitte, hilf mir.
In Liebe,
Billie
Mit richtigem Namen hieß sie Wilhelmina; ihre Mutter
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