Das Jahr der Maus
Wange.
»Möchtest du jetzt den Tempel besichtigen?« erkundigte sich Eamon.
Hand in Hand schlenderten sie über die Wege aus Steinplatten, die wie Inseln in einem Kiesmeer schwammen. Die Stützbalken des Tempeldachs waren zu einem komplizierten Muster zusammengefügt. Das Holz war unbearbeitet und sauber. Billie sah zu, wie sie mit der Hand darüberstrich. Durch die Papierwände schimmerte das Licht, ungleichmäßige Flecken bildend, wo das Material ein bißchen dichter war. Alt war lediglich eine hölzerne Buddhastatue; tiefe Risse zogen sich über das milde Antlitz. Die uralten Augen glänzten, und die Fältchen in den Winkeln verrieten, daß die Skulptur lächelte.
»Gehen wir nachher in ein Hotel?« fragte Billies Double schüchtern.
»Ich bleibe hier«, erwiderte Eamon überrascht. »Hatte ich dir das nicht gesagt?«
Vom Tempel aus führte ein Pfad durch einen Hain aus Kirschbäumen. Die Blüte war gerade vorbei. Weiße, welke Blütenblätter übersäten den Boden. Die Zellen der Mönche lagen in einer Reihe nebeneinander, wie Motelzimmer. Die Räume waren kärglich ausgestattet – ein Bett, ein Waschbecken, an der Wand ein Pergament mit kalligraphischen Zeichen. Unter der Decke ein kleines Fenster. Billie warf sich Eamon an die Brust und schmiegte sich an ihn.
»Hast du Lust?« fragte sie. »Gleich hier?«
Er lachte und drückte ihr einen Kuß auf die Nasenspitze. Dann pellte er sich aus seinem Hemd. Daheim in ihrem Schlafzimmer sah Billie seinen blassen, sommersprossigen Rücken; breite Schultern, dünne Arme, Eamon öffnete den Kimono der anderen Billie, und als das Gewand zu Boden glitt, sah sie ihren Körper, wie ihn der Computer Abend für Abend wahrgenommen haben mußte; immer noch jung, immer noch schön, trotz der Falten um den Bauch.
Sie legte sich auf das Bett. Von draußen trug ihr der Wind leise Radiomusik zu, irgendeinen japanischen Popsong. Eamon schlüpfte aus seiner Hose. Er hatte einen schwabbeligen Bauch und war zu stark behaart. Sein Penis war weder schön noch häßlich, wie er selbst. Eamon blieb einen Moment lang lächelnd vor Billie stehen.
»Danke, daß du gekommen bist«, sagte er und ließ sich sanft auf ihr nieder.
Auf einem anderen Bett, in einem anderen Zimmer, das nach Schweiß, Kohlsuppe und Diesel miefte, schaute Billie unbewegt zu und fragte sich, warum sie sich diese Szene überhaupt ansah. Derweil wickelte sie unentwegt das verhexte Stück Papier um ihre Finger.
Was waren schon sechs Wochen in ihrem Leben? Joey ging wieder zur Schule und machte ihr Kummer. Dieses Mal war er zu ruhig. »Er sondert sich ab«, behauptete seine Lehrerin. Was konnte Billie daran ändern? »Zu Hause bleibt er ständig in der Wohnung«, erklärte sie. »Auf die Straße kann ich ihn nicht lassen, die Gegend ist zu unsicher.«
Es gab eine Reihe von Einbrüchen, und die Wohnungsbaugesellschaft konnte die Versicherung nicht bezahlen.
»Wenn Sie in einem besseren Viertel leben würden«, speiste man Billie ab, »wären die Prämien nicht so hoch.«
»Dann zahlen die Reichen also weniger für ihre Versicherungen?« Sie war entsetzt.
»Für vergleichbare Objekte, ja«, gab der Vertreter zu. »Weil sie weniger gefährdet sind.«
Billie dachte daran, wie sie im Freien genächtigt hatte. Sie wußte, wie das war. In der Nachbarschaft gab es Obdachlose, die unter Eisenbahnbrücken kampierten. Sie bezahlte sie, damit sie ein wachsames Auge auf die Häuser der Wohnungsbaugesellschaft hielten.
»Das ist doch nichts weiter als eine Bestechung, damit sie bei uns nicht klauen«, lästerte die Frau, die sich Billies Wohnungsschlüssel hatte nachmachen lassen. Aber dann schnappten die Obdachlosen einen Einbrecher, einen jungen Bengel, fast noch ein Kind. Daraufhin verbesserten sich die Beziehungen zwischen den beiden sozialen Gruppen.
»Nicht übel«, brüstete sich Billie vor Eamon, doch der interessierte sich zur Zeit nicht besonders für ihre Wohnprobleme. Er und die andere Billie spazierten unablässig um den Tempel herum, durch den Hain aus Kirschbäumen und den bekiesten Garten. Jedesmal wartete der kleine Junge auf sie, während immer dieselben Touristen Bilder knipsten. Das Wetter änderte sich niemals, und der Lärm, den die hochflatternde Taubenschar veranstaltete, blieb stets der gleiche.
»Ihr seid wirklich nicht lebendig«, sagte Billie zu dem Paar auf dem Monitor.
»Nein«, bekräftigte Eamon, der sich nicht länger darüber wunderte, daß sie sich so schwer tat, diesen Umstand zu
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