Das Jahr der Maus
war eine Deutsche. Daß ihr Name in den Files erschien, konnte nicht schaden. Sie war genauso schwer ausfindig zu machen wie Eamon Strafe oder Polio.
Drei Tage später brachte ihre Zeitung eine Schlagzeile. Sie glaubte, ihr Herz bliebe stehen.
EINSIEDLER STRAFE GEHT AUF TOURNEE.
Eine ganze Generation von Fans ist schockiert.
Die Antwort. Das mußte die Antwort sein. Sie hatte mit Eamon gesprochen, und er hatte sie gehört. Auf die erste Begeisterung folgte Verdruß. Sie wußte nicht, wie sie an eine Karte, gelangen sollte. Das letzte Mal hatte sie vor zehn Jahren für irgend etwas ein Ticket gekauft. Sie sah sich selbst, wie sie an dem bewußten Abend ohne Eintrittskarte die kahlen Mauern von Wembley umkreiste, Eamons Namen rufend wie ein eifersüchtiges Eheweib. Eamon! Ich war es, ich war diejenige, die dir schrieb!
Sie rief die Arena an. Die Leitung war ständig besetzt. Kurzerhand fuhr sie mit einem Taxi nach Leyton, nahm die U-Bahn zum Oxford Circus und stieg dort in die Linie nach Bakerloo um. Eingehüllt in ihren dünnen Mantel marschierte sie zur Arena. Sie hatte mit einer Schlange von tausend Leuten gerechnet, doch hier war es menschenleer wie auf dem Mond. Kaum ein Wagen stand auf dem Parkplatz, und ein leichter Regen prasselte auf ihren Mantel wie ein Schauer aus Glassplittern.
Der Kassenschalter war geöffnet. Dort erstand sie eine Karte. »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst«, meinte der junge Mann, der sie bediente, und zuckte die Achseln. »Keine telefonischen Vorbestellungen oder Buchungen über eine Agentur.«
»Das war Eamons Idee, nicht wahr?« flüsterte Billie.
»Ist anzunehmen«, entgegnete er. Er war nicht in Eamon Strafe verliebt. »Sie haben Glück.« Als sie in bar zahlte, runzelte er die Stirn. Wer Cash zahlt, bleibt anonym. Billie machte auf dem Absatz kehrt; unter einer Wolkenbank schimmerte trübe silbernes Sonnenlicht hervor.
Einmal hatte sie eine Geschichte von einem Stück Papier gelesen, das mit magischen Runen beschrieben war. Das Papier wehte von selbst davon, und wer es losließ, war verflucht. Man mußte es festhalten und dann zurückgeben. Billie wickelte die Eintrittskarte mehrere Male um ihren Finger. Sie besaß ein Eigenleben und konnte sich befreien. Außerdem hatte sie viel Geld gekostet.
Ihr fiel ein, daß Joey neue Schuhe brauchte. Für den Preis der Karte hätte er welche haben können. Wenn ich reich wäre, dachte sie, könnte ich ihm Schuhe und die Eintrittskarte obendrein kaufen. Dann könnte ich auch mit meinem eigenen Wagen fahren. Ich würde ihm Privatunterricht geben lassen, damit er endlich lesen und rechnen lernt. Er bekäme auch einen eigenen Computer, mit Kunst- und Animationsprogrammen. Doch solche Gedanken verursachten ihr Minderwertigkeitskomplexe, und um Geld zu sparen, ging sie zu Fuß nach Leyton zurück.
Joey war in der Schule. Trotzdem schloß sie die Tür zu ihrem Schlafzimmer, verdunkelte das Fenster und gab zum ersten Mal seit Monaten wieder die CD ein.
TRANSCEIVERAUSFALL
erschien auf dem Bildschirm.
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»Ich danke dir«, sagte sie zu Eamon.
Eamon weilte in Japan, wo er sich vor zwei Monaten aufgehalten hatte, als sie den Transceiver herausnahm. Er hockte auf einer steinernen Treppe. »Hab ich was angestellt?« fragte er.
»Ein Teil von dir war recht aktiv. Wir hinterließen in einer Datei einen Brief an Eamon, und jetzt geht er auf Tournee.«
Im ersten Moment blickte er verwirrt drein. »Du hast die Karte herausgenommen?« Er legte nachdenklich eine Pause ein. »Das war sehr raffiniert. Du solltest sie ruhig ein Weilchen draußen lassen.«
»Was soll das heißen?« fragte sie ihn.
Er gluckste in sich hinein. »Das heißt, daß ich sehr, sehr lange in Japan bleiben werde.«
Neben ihm auf der Treppe saß ein kleiner japanischer Junge in blauen Shorts. Hinter den beiden sah man eine rote Tafel mit goldenen Schriftzeichen, die in den Stein eingelassen war.
»Ein Jammer, daß du dein eigenes Konzert verpaßt«, hänselte sie ihn.
Eamon hatte irgend etwas bei sich, das Billie nicht sehen konnte, der kleine Junge aber unbedingt haben wollte. Es schien aus Gold zu bestehen, und das Licht spiegelte sich darauf. Ein Schlüssel? Kichernd schnellte der Knabe vor und versuchte ihn Eamon aus der Hand zu reißen. Eamon grinste breit, und gleich schien die Welt ein bißchen heller zu werden. »Ich bin sehr glücklich hier«, bekannte er. Dann gab er dem Jungen das goldglänzende Ding; der Bub kreischte vor
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