Das Jahr der Maus
Freude und rannte fort. Billie fiel auf, daß der Kleine neue Schuhe trug.
»Ich weiß gar nichts über mich, stimmt’s?« fragte er, den Blick auf Billie geheftet. Er sah alt aus, verbraucht. »Vom Geschäftlichen verstehe ich auch nicht viel. Ich habe keinen blassen Schimmer, woher das Geld kommt und wohin es geht. Eamon weiß sicher über alles bestens Bescheid; das heißt, daß ich ihm im Grunde gar nicht ähnlich bin.«
»Du hast recht«, seufzte Billie. »Wahrscheinlich bist du viel netter als er.«
Der Knirps kam auf einem roten Dreirad zurückgeradelt; er strahlte, die Schlitzaugen unter den Lidern fast verhüllt. Eamon murmelte ihm etwas auf japanisch zu. Der Junge schien ihn nicht zu hören; immerzu umkreiste er Eamon mit dem Rad.
»Wie lange bin ich nicht … aktiviert worden?« erkundigte er sich.
»Laß mich nachrechnen. Ungefähr sechs Monate lang warst du abgeschaltet.«
»Aha. Fing ich an, mich zu wiederholen?«
»Nein. Kein einziges Mal.«
Er schaute in die Runde. »Dieser Tempel«, erklärte er, »besteht aus Holz, das man aus Korea importiert hat. Alle dreizehn Jahre wird er abgerissen und wiederaufgebaut. Aber er bleibt derselbe Tempel, der ursprünglich im vierzehnten Jahrhundert errichtet wurde. Er ist alt und neu zugleich.«
Billie war noch nie in Japan gewesen. »Ich würde gern einen Blick hineinwerfen«, wünschte sie sich.
Eamons Gesichtszüge erschlafften, und sein Lächeln wirkte gekünstelt. »Vielleicht hat man dein Programm mit genügend Daten gefüttert, um dir diese Bitte zu erfüllen. Hast du was dagegen, wenn ich mich für ein Weilchen zurückziehe, Billie? Ich möchte jetzt gern allein sein.«
»Du bist entschuldigt«, sagte sie. Er stand auf und marschierte aus dem Bildschirm. Sie hatte nicht gewußt, daß er dazu imstande war. Besaß er immer noch eine digitale Existenz? Programmierte die Maschine nach wie vor seine Handlungsweise? Die unterschiedlichsten Geräusche drangen an ihr Ohr: Jemand schritt knirschend über Kies, Wind fuhr raschelnd durch Laub, Kinder lärmten und Vögel zwitscherten.
Gerade als sie den Computer abschalten wollte, kam der kleine Japaner zur Treppe zurückgelaufen; weinend suchte er Eamon. Wir beide haben etwas gemeinsam, dachte Billie. Das rote Dreirad flitzte vorbei, mit einem älteren, fetten Jungen darauf, der furios in die Pedale trat. Er hatte dem Kleinen das Rad weggenommen.
Wer erfindet das alles, fragte sie sich. Ich etwa? Oder der Computer? Wie weit außerhalb dieses Parks könnte ich laufen? Ist vielleicht ganz Kyoto auf diesem Programm?
Von fern vernahm sie undeutlich Eamons Stimme. Der Dreikäsehoch lief hin und verschwand vom Bild. Dann hörte sie, wie der Bub sich bitterlich beklagte. Versteckt in den Büschen sangen immer noch die Vögel. Billie wollte sie sehen.
Aus einem Winkel des Monitors glotzte das starre Auge sie mit stumpfgrauer, trüber Pupille an.
»Versetz mich in dieses Bild«, flüsterte Billie.
Plötzlich sah sie sich selbst über den Bildschirm flanieren, in einem traditionellen japanischen Kimono. Ja, genauso würde ich mich anziehen, dachte sie wehmütig. Unermüdlich würde ich nach dem alten Japan suchen. Grün-weiße Seide umschmeichelte sie, und in ihrer Frisur steckten so etwas wie Eßstäbchen. Mein Gott, Billie, bist du blöd!
Ihr schwarzes Haar glänzte, ihr Teint war fahl, doch sie gefiel sich. Sie war selbst überrascht, wie schön sie sich fand. Ihre Bewegungen hatten etwas unverhofft Präzises, Drahtiges an sich. Trotz ihrer überschlanken Figur wirkte sie nicht zerbrechlich. Ich bin ja richtig attraktiv, freute sie sich.
Die Billie auf dem Monitor setzte sich auf die Steintreppe und wartete. Die Sonne wanderte über den Himmel, manchmal verdeckt von Schleierwolken, und das Licht spiegelte sich auf der Goldstickerei ihres Gewandes. Von ihrem Platz auf den Stufen aus schaute Billie ihr Original in England an.
»Hier ist es viel schöner als zu Hause«, hörte sie sich mit ihrer eigenen Stimme sagen. Der kleine Junge kam über den Kies zu ihr gerannt und bot ihr ein rosa und weißes Fischküchlein an.
»Danke«, sagte Billie zu dem Knirps. Sie biß von dem Küchlein ab und gab dem Kleinen den Rest zurück.
Das ist unhygienisch, dachte Billie, dann fiel ihr ein, daß es in dieser virtuellen Welt keine Bazillen gab.
Eamon kehrte auf den Bildschirm zurück.
»Fühlst du dich jetzt besser?« fragte Billies Kopie.
»Ja, danke«, erwiderte er. Sie stand auf, und er küßte sie auf die
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