Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
Vom Netzwerk:
akzeptieren. »Im Himmel ist es auch nicht viel anders.«
    Billie hatte Eamon, ihren Eamon, glücklich gemacht. Und was war für sie drin? Ihr blieb das Konzert. Vielleicht passierte dort etwas, und sie wäre frei. Sie würde den echten Eamon Strafe erleben; entweder sie wäre enttäuscht, und das würde dann das Ende ihrer Schwärmerei bedeuten, oder er war wirklich so wunderbar, wie sie es sich einbildete. Das wäre auch eine Antwort.
    Es wurde ein goldener September, aber ihr Leben läpperte sich Grau in Grau dahin, während sie, die Hände unter die Achselhöhlen geschoben, in ihrer Wohnküche kauerte. Joey nahm sie wie einen Schatten wahr. Sie aß, wenn er aß, andernfalls hätte sie überhaupt nichts zu sich genommen. Angestrengt grübelte sie darüber nach, was sie zu der Show anziehen sollte, als ob Eamon das überhaupt bemerken würde.
    Zum Schluß entschied sie sich für eine unauffällige Bekleidung, damit sie nicht noch überfallen würde – einen grauen Jumpsuit mit einem kleinen Kaffeefleck am Schenkel. Schließlich wollte sie ja niemanden beeindrucken. Und mit dem Nachtzug würde sie nach Hause fahren müssen, ein Taxi käme gar nicht in Frage. In ihre Handtasche steckte sie ein großes Küchenmesser. Das verhexte Papier hatte sie in einem Umschlag verwahrt, weil sie es sonst vom ständigen Um-die-Finger-Wickeln noch zerfleddert hätte. Die Tasche mit dem Umschlag hielt sie mit beiden Armen umklammert.
    Unterwegs zur Bushaltestelle, und als sie später in der U-Bahn saß, schaltete Billie auf Autopilot; ihr Puls raste, und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Der Zug sauste vorbei an den verwahrlosten öffentlichen Gebäuden, den endlosen Reihen von Gärten und mit Sträuchern bewachsenen Ödflächen.
    Mit ihr stiegen tausend Leute aus dem Zug. Es glich einer Pilgerfahrt. Billie schaute in die Gesichter. Das waren Gleichgesinnte, Fans von Eamon Strafe – Bibliothekarinnen, Stenotypistinnen, TV-Angestellte, Verlagssekretärinnen, Buchhändlerinnen, Frauen, die Töpfern zum Hobby hatten. Mit leeren, leicht verwirrten Mienen strebten sie ihrem gemeinsamen Ziel entgegen.
    Auf eine Art fühlte sich Billie hochgestimmt, weil sie wieder in der Masse mittrieb, wie damals, als sie noch jung waren; in Piccadilly hatten sie herumgelungert, bis die Clubs öffneten, und gerade wenn es dort richtig losging, mußten sie sich wieder verdrücken, um den letzten Zug zu erwischen. Ob Tora auch hier war? Sie hätte sie anrufen sollen. Ihre aufgewühlten Gedanken kreisten ständig um eine bestimmte Zeile aus einem von Eamons Songs. Denn der Rhythmus macht sie zu Sklaven, Sklaven, Sklaven, sang es unablässig in ihrem Kopf.
    In einem Riesenpulk strömten sie die Treppen hinauf. Im Stadion war eine Art Marktstraße aufgebaut; Verkäufer boten lautstark Hot Dogs oder frischgepreßten Orangensaft feil. Billies Reformhaus war mit einem Stand vertreten, der für Sojabohnen-Sandwiches warb. In einer Anwandlung von Kamaraderie eilte Billie hin. »Ich arbeite auch für Billings Naturkost«, erzählte sie.
    »Großer Gott, da tun Sie mir aber leid. Wenn ich eine Tochter hätte, würde ich ihr verbieten, in einem Reformhaus zu jobben.«
    Sie tauschten leidvolle Erfahrungen aus, dann kaufte Billie aus lauter Verlegenheit und um das Gespräch zu beenden ein Stück Karottenkuchen. Mampfend pirschte sie die Umzäunung entlang auf der Suche nach Tor M. Natürlich war sie übers Ohr gehauen worden, die ganze Show zielte ja darauf ab, die Leute finanziell zur Ader zu lassen. Zu einem Zeitpunkt, als ihre Bank ihr keinen Überziehungskredit mehr gewährte, hatte sie dreißig Pfund für einen angeblich guten Sitzplatz berappt; dort war er, meilenweit vom Geschehen entfernt und hinter einer Säule.
    Unter ihr erstreckten sich endlos gestaffelte Sitzreihen, auf der darauffolgenden Böschung hatte man eine unüberdachte Tribüne errichtet. Davor wiederum standen auf einer ebenen Fläche Bänke. Erst dann – winzig wie ein Daumennagel – erhob sich die Bühne. Billie lächelte.
    Na klar, dachte sie beinahe übermütig, das müssen die so machen, damit wir endlich kapieren, wie klein wir sind. Wir müssen auf das richtige Maß zurechtgestutzt werden, wenn wir aus unseren Schneckenhäusern hervorkriechen. Sie drehte sich um und betrachtete die Leute, die auf den Bänken hinter ihr saßen. Natürlich, sagte sie sich, wir sind nichts weiter als kleine Schnecken, die man aus ihren Gehäusen herausgepult hat. Allmählich wurde die Luft in der

Weitere Kostenlose Bücher