Das Jahr der Maus
Grimasse saß ihm wie eingeätzt. Als er meine Hand nahm, zuckte er im Augenblick der Übertragung ein wenig zurück, wie unter einem kleinen Stromschlag, der durch die Entladung statischer Elektrizität hervorgerufen wird. Er ging gleich weiter. Ich rief ihm hinterher: »Das Blatt, Herr Tenier, das Blatt!« und er lächelte noch einmal zu mir zurück, ein wenig irritiert.
Als ich mir später die Nachrichten vom seinem Herztod während der Wahlkampfrede ansah, fand ich meine Erscheinung kritikwürdig. Ich war von einer der Kameras in dem Moment eingefangen worden, als ich nach dem Minister gerufen hatte. Die Sonnenbrille stimmte, der alberne Hut stimmte, das Fähnchen in der linken Hand stimmte, der goldene Schneidezahn hingegen war etwas übertrieben und meine Körpersprache völlig verfehlt, denn sie drückte keine freudige Erwartung, sondern eher eisige Gelassenheit aus. Auch das Zucken des Ministers bei meinem Händedruck war gefilmt worden, auch sein irritierter Blick zurück. Es würde nichts nützen, aber die Polizei würde auf diesen seltsamen kleinen Mann aufmerksam werden, wenn sich der Tod des Ministers zu sehr verrätselte. Die Helfer stimmten in der Beurteilung meiner Leistung mit mir überein. Sie bestätigten mir, daß der Minister im Augenblick vor seinem Zusammenbruch ein Blatt gesehen hatte, das mit seinem Stiel in einem Sandhaufen steckte.
Keine Justiz für die Ziele. Keine Beratungen. Keine Geständnisse. Keine mildernden Umstände. Kein Strafnachlaß, kein Freigang, kein Urlaub, kein Besuch, keine Anwaltspost, kein Umschluß, nichts. Nur die eisige Brutalität, die einst von ihnen ausgegangen ist, und ihre Umkehr, ihre Reflektion. Die Schmauchspurumkehr, das Abprallen der Gewalt, der Rücklauf, der Bumerang. Nur das eiskalte Rasen der Helfer und ihrer Anweisungen, der Stimmen, in meinem Hirn, die nehmen das Leben der Lebensnehmer. Ich bin ein Werkzeug gewesen, und so fühle ich mich auch.
Ich hörte mir das an:
Mach uns keine Mühe.
Du sollst nicht hochmütig sein, nur weil du zaubern kannst.
Du kannst nur zaubern, solange wir es zulassen.
Denk nach: Wer hat dich gemacht?
Was bist du schuldig?
Kannst du zahlen?
Sei vorsichtig. Sieh dich vor.
Die Haube hat 5 E gekostet. Sie hängt an einem Ring, den der Nutzer auf den Kopf setzen muß. Der Ring enthält das Projektionssystem, die Haube selbst ist die Leinwand. Durch ein ausgeklügeltes Ventilationssystem hält die Atmung des Nutzers die Haube immer gebläht. Man kann die Haube verspiegeln, aber manche vergessen das, und man kann sie beobachten, wenn die Augen offen hin und her sausen. 5 E, fünfhundert Kanäle, direkt aus der Satellitenantenne des Zugs selbst, wenn nötig auch chinesisches Piratenfernsehen aus den Gewässern vor Hongkong. Ich setze mir das Mundstück auf (vor einiger Zeit wurde behauptet, man könne unter einer Haube ersticken, die Deutsche Magnetbahn AG dementierte heftig). Der Ring hört auf meine leise geflüsterten Befehle (Ohrpfropfen aus Schaumstoff waren in dem Set inbegriffen, das die freundliche Zugbegleiterin mir durchreichte). Ich zucke nur so durch die Kanäle, und werfe ein Stop ein, wenn ich etwas besonders Unattraktives erhasche.
›Tödlicher Ernst‹ mit Robert Steinheim, ›die philosophische Gameshow‹, und die unterlegenen Schwätzer sterben durch Gesten des Publikums, wie im alten Rom. Der Schweiß auf dem Gesicht des Diskutanten, der beim Gespräch über Fragen der Zeit die Felle davonschwimmen sieht, unsicher wird, stammelt, Argumente verschluckt und seine Zeit vertut, Macchiavelli ins Feld führen oder Plato, Kant oder Heidegger, Nietzsche oder doch lieber Heraklit? Was kommt besser an, denk nach, denk nach, es geht um die Wurst, es geht um dein Leben. Die Zuschauer toben. Man kann sich schwer konzentrieren, und der Gegner ist seit fünf Runden Champion, er sieht auch besser aus, versuch es doch noch einmal mit Plato. Ach, dein Gegner kontert mit den neuesten Schlagworten des derzeit modischen Neovitalismus, ›Soziogenität‹, ›Fehlcharakter‹, ›Einkehr‹. Und du hast das nur überflogen. Warum auch alles lesen, das Thema der Sendung sollte ›Der Staat als Gedanke‹ sein, und du hattest dich auf den Liebling des alten Königs gestürzt (›Il principe‹), und nun versagt er. Noch einige wirre Blicke in die geschmackvoll arrangierte Kulisse hinein (beige und schwarz). Es ist aus. Die Zeit ist um. Das Publikum tötet dich mit abwärts zeigenden Daumen.
(Und der Mann
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