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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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konnte fast das Fieber der Computerspezialisten spüren, die Millionen von Schriftproben miteinander verglichen, sie durch immer feinere Raster schlugen, und doch nichts fanden. Ich ärgerte mich. Meine Gestalt während der Aktion gegen Tenier war kritisiert worden, und die Helfer ärgerten die Polizei mit mystischem Humbug. Quod licet, Scheiße. Auch bei mir war ein Brief eingegangen, mit einem Foto des nächsten Ziels. Prof. Dr. Anita Bethge, Ärztin und Psychologin an der Universität Hamburg, Sonderforschungsbereich 18. Verhaltensforscherin. Alter, Größe, Gewicht, Hobbies (Reiten, Schwimmen), sexuelle Präferenzen, Familienstand, wissenschaftlicher Werdegang. Brillenträgerin. Fachgebiete: Solitary confinement, Grenzbereiche der Psychologie, Transmedizin. Derzeitige Hauptbeschäftigung: Projekt B1. ›Somatische und psychische Auswirkungen erzwungener langer Einsamkeitsperioden beim Menschen und die Möglichkeiten zu ihrer Beeinflussung durch unkonventionelle Methoden der Psychologie und Medizin.‹ Die Wissenschaftlerin war den Helfern dadurch aufgefallen, daß sie kurz hintereinander mehrere deutlich jüngere Geliebte gehabt hatte. Dem Brief, der eines Morgens ohne Absender und Briefmarke vor meinem Hotelzimmer zu finden gewesen war, lagen einige Empfehlungsschreiben der Behörden eines südamerikanischen Folterstaats bei, die sich angeblich auf Einladungen deutscher Behörden bezogen, mir wurde gesagt: Zweifle nicht. Ein Paß (Magnetkarte) inklusive Fotografie, der mich zu einem diplomatischen Vertreter desselben südamerikanischen Staats machte (Konsulat Hamburg). Öffnungs- und Bürozeiten des Instituts von Frau Dr. Bethge, Telefonnummern, Lagepläne. Ich sollte beim Erstkontakt Grüße von einem gewissen Dr. Angermann ausrichten, stellvertretender Leiter des psychologischen Stabs beim KKA Wiesbaden. Zwei Tage nach Ankunft des Briefs machte ich mich fein für die Frau Doktor und rief sie an.
    »Grüße von Dr. Angermann«, sagte ich, und war immer noch gefährlich verwundert über den leichten spanischen Akzent, den ich mir durch intensives Nachdenken anerzogen hatte.
    »Ja?« sagte Frau Bethge, die Doktorin, nicht im geringsten überrascht.
    »Manuel Muntadas ist mein Name. Ich habe viel von ihrer Arbeit gehört. Ich würde mich gerne vor Ort darüber informieren.«
    Der Bildschirm leuchtete auf, und ich sah mich der plastisch-farbechten Wiedergabe eines Frauengesichts in den späteren Vierzigern gegenüber, nach den Regeln der Kunst und der Vernunft zurechtgemacht für ein Leben auf der Grenze zwischen Wissenschaft und Politik. Ich sah sorgfältig frisierte, schulterlange Haare (sachliches Braun), beherrschte Ponies, starke Augenbrauen, dunkelbraune Augen unter einer eigenartig großen Brille und ein kleinflächiges, fast dreieckiges Gesicht. Volle Lippen, dezenter Lippenstift mit einem leichten Stich ins Kupferne. Erstaunlich breite Schultern. Als sie die Brille abnahm, sah ich, daß ihre Fingernägel lackiert waren, die Farbe paßte zum Lippenstift. Laut Auskunft der Helfer war diese Brille bei einer speziellen japanischen Lesetechnik behilflich. In den wenigen Fachpublikationen, die ich hatte auftreiben können, sprach man von ihr mit hohem Respekt, allerdings auch so, als wisse man genau, daß die Kollegin den Nobelpreis nie bekommen würde, dafür waren ihre Methoden wohl zu revolutionär und ihr Fachgebiet insgesamt zu politisch. Ihre Körpersprache und ihre Mimik sagte, daß sie sich dafür schämte, die Brille vor der Freigabe der Kamera vergessen zu haben. Diese Frau machte nicht gerne Fehler. Sie kaschierte ihre leichte Unsicherheit mit einem Angriff.
    »Ich hatte Sie mir anders vorgestellt.«
    Wenn das eine Reaktion auf das Unbehagen in meiner neuen Haut war, dann war hier mehr Vorsicht angebracht, als die Helfer vorgeschlagen hatten. Ich mochte ja mein Gesicht wirklich nicht, das sich transparent in dem Bildschirm spiegelte. Ich sah aus, wie man sich als Europäer einen jungen Stinker aus der Oberschicht einer Bananenrepublik vorstellt, dunkelhaarig, hübsch, mit einem hauchfeinen indianischen Einschlag, weiße Haut auf dunklerem Grund. Anscheinend hatte sie aber einen pockennarbigen Halsabschneider erwartet, dem die Brutalität aus den Augen nur so herausleuchtete, wenn er nicht gerade seine notorische Sonnenbrille trug. Vielleicht hatte sie mit solchen Leuten schon öfter zu tun gehabt. Für alle Fälle konnte ich ein Examen von der School of the Americas vorweisen, das etwaige Zweifel

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