Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
Vom Netzwerk:
schlecht kaschiert durch eine vordergründige Freundlichkeit, und hier schlechter kaschiert als sonst. René nahm vor Nervosität die Sonnenbrille aus den Haaren, das war ein Fehler, denn so konnten sie ihm wirr über die Stirn fallen. René wagte keinen Blick in die Runde, als man sich an den Küchentisch gesetzt hatte, er wollte alles ausstrahlen, nur nicht Gehetztheit und Verzweiflung. René bot großzügig von Zigaretten an, die er gestern in einem Schnellfress gefunden hatte, alles Nichtraucher. Man unterhielt sich, zwangsläufig, bla bla. Und was machst du, und was machst du und René tischte seine üblichen Lügen auf, und stellte seine üblichen Fragen. Kommt schon, dachte er, laßt mich hier wohnen, ihr Wichser, ich brauche ein Dach über dem Kopf, und ihr habt, was ich brauche. Er wollte mit diesen Leuten nicht wohnen, aber er mußte etwas finden, und zwar bald. Das hier war sein zehnter, fünfzehnter, zwanzigster Versuch, René war müde. Kommt schon, dachte er fiebernd, das T-D verraucht, ich brauche eine halbe Zusage, damit ich diesen Tag überstehe, ich brauche etwas zum Weitermachen, kommt schon. In all seiner Nervosität traf ihn die entscheidende Frage unvorbereitet. Und natürlich stellte sie der Anführer, ein gewisser Thomas.
    »Kann ich mal deine Karte sehen?«
    »Mmh?«
    »Deine Versicherungskarte. Du hast sie doch dabei, oder?«
    Aus. Vorbei. Erledigt. Nun gut, das war immer mehr in Mode gekommen, daß Wohngemeinschaften ihre Kandidaten nach Sicherheiten fragten, nach Vermögen, Bargeld, Versicherungspolicen. Aber seit der Erlaß aus einer bloßen sozialen Schikane, aus Kann-Bestimmmungen für die Sozialämter ein Gesetz gemacht hatte, seit Wohngemeinschaften als ›familienähnliche Strukturen‹ begriffen wurden, die für ›in Not geratene Mitglieder aus eigenen Mitteln‹ zu sorgen hatten, gab es keine Ausnahmen mehr. Und so verfolgte René die Frage nach der Versicherungskarte seit einigen Monaten wie ein Alpdruck. Wie oft hatte er diese Frage schon zu hören bekommen, und wie oft war ihm schon nichts besseres eingefallen als der schmale Satz, den er auch jetzt aus dem Ärmel zog:
    »Ich … ich habe sie nicht dabei.«
    Er sah in die Augen des Anführers. Er sah in die Augen des Besitzers. Das war der Mann, der hier die Entscheidungen traf, Kollektiv hin oder her. Nicht einmal unfreundlich oder roh. Nicht einmal gewalttätig. Nur ein Entscheider, nur ein Besitzer. Komm schon, dachte René, laß mich los, schmeiß mich raus, mach mich fertig, drück mich aus. Die Augen des Anführers namens Thomas waren braun.
    »Ah ja«, sagte er. »Das ist aber ein Problem. Wir … wir brauchen die Karte, bevor wir eine Entscheidung treffen können.«
    Er sah ein wenig betreten in die Runde, weil es ihm peinlich war, vor seinen Mitbewohnern Ausreden zu benutzen. Die Entscheidung war in dem Moment gefallen, als René den Raum betreten hatte.
    »Du weißt ja, familienähnliche Struktur, und so weiter.«
    Weiß ich, Arschloch, dachte René, weiß ich. An der Wand hingen die gefälschten Äußerungen eines Indianerhäuptlings inmitten anderer Zeugnisse eines gemäßigten Humanismus. Draußen war Spätsommer/Frühherbst. René sah den Anführer immer noch an. Thomas war peinlich berührt. Er verletzte gerade seine Ideale. Seine Augen drückten eine Gewissensqual aus, die auf der anderen Seite des Zauns stattfand. Dann gab sich Thomas einen Ruck, und zwar in die falsche Richtung. Er stand auf.
    »Wir rufen dich an«, sagte er. René nahm kaum wahr, was die beiden Frauen taten, die auch noch mit am Tisch gesessen hatten. Ihm war fast, als müsse er weinen, und das haßte er. Er versuchte, sich die Sonnenbrille aufzusetzen, und stach sich dabei mit einem Bügel fast ins linke Auge. Er atmete tief auf.
    »Nein, ihr Häschen«, sagte er zu niemand bestimmtem, ihm war nicht gerade nach Augenkontakt zumute. »Nein, nein. Ihr ruft mich nicht an. Ich verbitte mir das. Beißt euch in den Bauch. Fickt euch ins Knie. Der Weihnachtsmann soll euch holen und an den Kamin verschenken, wenn ihr wißt, was ich meine. Fuck you, fuck you, fuck you.«
    Und er rannte mehr, als daß er ging. Wohin? Zum Fluß. Keine Wohnung – keine Bewährung, klingelte es durch seinen Kopf von rechts nach links. Keine Bewährung – keine Versicherungskarte, klingelte es aus der anderen Richtung zurück. Keine Versicherungskarte – keine Wohnung, klingelte es ihm von vorne durch die Stirn. Sie würden ihn wieder einfangen. Sie würden ihn wieder

Weitere Kostenlose Bücher