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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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zappelte und schrie, während das Publikum begeistert war, ein Opfer nach Maß, und die Übertragung der Hinrichtung aus einer kleinen Kammer, die Spaltung seines Kopfs, verfolgte es mit atemloser Spannung. Eine Million neue D-Mark für den Champion, der beim Jubeln Flecke unter den Achseln vorzeigte).
    Philosophie boomt derzeit. Und nicht daß wir im einundzwanzigsten Jahrhundert leben, sondern in einer elektronischen Version des neunzehnten, das keine Zeit war, sondern eine Neurose.
    Deformation professionelle, occupational hazard: Ich habe dem Sterben zusehen gelernt, und sah mir auch den Tod des Verlierers an. Überhaupt bin ich dabei, ganz Auge zu werden, Informationstrinker, Fieberseher, blutunterlaufen, manchmal zwinkernd: Auch darauf war ich vorbereitet.
     
    Schnipp:
     
    Interview mit einem ehemaligen Agenten des ehemaligen amerikanischen Secret Service vor der Kulisse seiner ehemaligen Dienststelle, und er sagt: »Er war wie ein Baby zum Schluß. Völlig blank, völlig leer.« Und meint damit seinen letzten Dienstherren, einen ehemaligen Präsidenten (Namen vergessen): Das Bild zeigt einen unnatürlich alten Mann, dessen Falten mit den primitiven Mitteln einer obsoleten Schönheitschirurgie von anno Tobak alle hinter die Ohren gezogen worden sind, und was schon zu den Glanzzeiten des Präsidenten übriggeblieben ist: ein unvergängliches Lächeln. Im letzten Stadium haben sie wohl die Abnäher hinter den Ohren wieder aufmachen müssen, weil der Schädel durch die immer dünner werdende Haut kommen wollte. Der ehemalige Agent sagt, er trauere immer noch um den ehemaligen Präsidenten. Er habe bei dessen Tod am Bett gesessen, zusammen mit dessen ehemaliger Frau. Auch davon gibt es bildliche Beweise. Der Agent weint vor der Kamera. Sein Buch regnet in Amerika aus allen Himmeln.
     
    Schnipp:
     
    Brennende Häuser, Soldaten in ABC-Ausrüstung, die ihre tragbaren Raketenwerfer und Sturmgewehre durch teils menschenleere, teils leichenübersäte Straßen tragen, das Knistern des Feuers unnatürlich laut in meinen Ohren (Schallinduktion über die Hohlräume meiner Knochen). Kein Kommentar, nur die stille Prozession des Todes und seiner Soldateska, und das Prasseln und Knistern des Feuers (von fernher einige Salven). Verbrannte Palmen.
     
    Schnipp:
     
    Ein Mann mit gepflegtem langem Haar, der in wallendem Gewand vor der weichgezeichneten Darstellung einer Galaxie sitzt und mit einer geübten Stimme vorträgt:
    … was die gewöhnliche, weltlich gesinnte Menschheit betrifft, was braucht man sie schon zu erwähnen! Da sie infolge von Furcht, Schrecken und Schauer fliehen, stürzen sie in den Abgrund hinunter in die trostlosen Welten und fliehen. Aber der Geringste der Geringen, der an die mystischen Mantrayana-Lehren Glaubenden wird, sobald er diese bluttrinkenden Gottheiten erblickt, sie als seine Schutzgottheiten erkennen, und das Treffen wird wie das von menschlichen Bekannten sein …
    Wie für meine Helfer gemacht. Die Augen des Gurus leuchten mich an, als er die geliehenen Texte rezitiert. Dann fordert er mich auf, das nächstemal doch bitte die Lebensgesetz-Partei zu wählen, Einblendung der Spendenkontonummern, all credit cards accepted. Die Lebensgesetzpartei ist mittlerweile in der Volkskammer und im Staatsrat vertreten, einer der Staatsminister gehört ihr an.
     
    Schnipp:
     
    weißes Rauschen
     
    Schnipp:
     
    brennender Dschungel
     
    Schnipp:
     
    offene Bauchdecke
     
    Schnipp:
     
    triefende Möse
     
    Schnipp:
     
    leuchtende Cornflakes
     
    Schnipp:
     
    fliegende Bomber
     
    Schnipp:
     
    Wurstwerbung
     
    Schnipp, Schnipp, Schnipp – kenn ich, weiß ich, hab ich schon gesehen. Die Batterie des Rings gibt ihren Geist auf. Erst werden die Bilder blaß, dann kann ich die Wirklichkeit durch sie hindurchschimmern sehen, und dann habe ich nur noch einen aufgeblähten Sack vor meinen Augen, der von außen nicht einsehbar ist. Mit freundlichen Grüßen der Deutschen Magnetbahn AG.
     
    Eine Woche nach Teniers Tod ging bei seinem ehemaligen Stellvertreter ein Brief ein, der lautete: »Er ist gestorben, weil er dumm war.« Nicht nur die Tatsache, daß es sich um einen der schon lange selten gewordenen Papierbriefe handelte, sondern auch, daß er handschriftlich abgefaßt war, sorgte neben seinem Inhalt für einiges Aufsehen. Dazu kam, daß Papier und Tinte frühestens aus dem letzten Jahrhundert stammten; einige exklusive Papeterien, die mit solchen Dingen handelten, bekamen unangemeldet Besuch. Ich

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