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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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von den Körperkraftzentren eine zweite Bedeutung haben: Speicher anzulegen für Mitgefühl. Froh zu sein bedarf es wenig, wer Empath wird, sticht den König. Zum Beispiel die Frau mir gegenüber. Ich kann ja nicht anders, flashbacks, occupational hazard, deformation professionelle, the long good-bye. Sie ist fast ganz leer, aber das Altern massakriert ihr Selbstbewußtsein doch. Sie hat ein Vermögen dagegen ausgegeben und sich nichts weiter erhandelt als Bitterkeit; das zu bedecken dient dieses festgefrorene Grinsen in ihrem Mund, Empathie ist grausam. Es gibt eine sadistische Art des Mitgefühls, die zieht das Gegenüber aus bis auf das Apfelhaus, in dem dann die kleinen blutstuhlbraunen Kerne hausen, das soll ja auch den Darm reinigen, wenn man sie mit hinunterschluckt. Die Frau würde mir nie glauben. Sie findet mich nur interessant, wegen meines entspannten Lächelns, das nichts als das Ergebnis jahrelanger Übung ist. Wer nach innen geht und erst lange später wieder herauskommt, wird lächeln. Das ist furchtbar. Aber besser als die Jugendlichen mit den breiten Gesichtern und den toten Augen, die in kleinen Trupps zu Dreien oder zu Vieren durch die Gänge ziehen. Sie fuchteln mit ihren Händen herum, die der Mode gemäß mit Leuchttätowierungen verziert sind, und nuckeln künstliches thailändisches Bier aus schlecht versteckten Mundstücken in ihrem Jackenkragen; die Flaschen dazu verbergen sie wie einer ihrer Helden, der Ranger Marc T., in wulstigen Militärjacken, nur daß Marc T. eine Rechnergeburt ist und statt Kunstbier Powersap trinkt, der ihn fast unverwundbar macht. Wäre da nicht sein ewiger Feind Naikioku, der Powersap mit Trema wirkungslos machen kann. Gestern abend hat Marc T. wieder die Welt gerettet. Ich habe ihm dabei zugesehen und mich vor Lachen fast bepißt. Indolenz macht mir am meisten zu schaffen, weil ich so schmerzsüchtig bin. Jemand, der keine Qual mehr empfinden könnte, wäre mein sofortiger Tod. Ich halte mich von Menschen fern, deren Leid so tief versteckt ist, daß ich es nicht mehr lesen kann. Ein Wesen in langen, ökologischen Kleidern setzt sich zu uns. Sie ist eine Prinzessin aus dem Abendland, ein Weibchentau. Schwarze geflochtene Haare, die Blässe der Hautkrebsparanoiker. Sie sieht mich nicht an. Ich mache meine Augen sehr langsam ein wenig schöner, als sie in Wirklichkeit sind, und zupfe hie und da mein ganzes Gesicht ein wenig zurecht. Ach, Wahnsinn. Wie viele können sich ein anderes Geschlecht an ihren Körper denken, nur weil sie verrückt sind? Wieviele können eine andere Person sein, nur weil sie es sich wünschen? Und bei mir dauert es eine halbe Stunde, wenn ich mich nicht anstrengen will. Und gleichzeitig ein Bestandteil der Welt sein. Und nichts anderes als das.
     
    René hatte keine große Hoffnung. Er suchte dringend nach einer Wohnung, weil er aus seiner letzten herausgeflogen war, er hatte sie ja nicht mehr bezahlen können und außerdem zu laut Musik gehört. René wollte frei sein, vor allem von Einsamkeit, das hätte er sich aber nie gestanden. René lief krumm. Er trug eine schwarze Lederjacke, in die auf dem Rücken ein Winkelhaken gerissen war, die Absätze seiner Schuhimitate waren so gut wie nicht mehr vorhanden, René trug seine löcherige Unterhose, aus der seine Eier hätten herausbaumeln können. René war nicht rasiert, René roch wie der Frühling.
    René war schon eine ganze Strecke gelaufen, er hatte kein Geld mehr für den Bus gehabt. Er war bei seinem Spaziergang auch an einem Kinderspielplatz vorbeigekommen, die Kinder hatten den Sand zu festen Haufen zusammengeklopft und in jeden von ihnen ein Blatt hineingesteckt, es hatte Kämpfe um die Haufen gegeben. Bevor René an seine eigene Kindheit hatte denken müssen, war er lieber weitergezogen. Er hatte ein bißchen T-D geschnupft, nur für den Fall, daß es zu streßartigen Erscheinungen käme. Das chemisch induzierte Gefühl der Sicherheit und Klarheit wurde langsam ein wenig blaß, darunter lauerten Angst, Mickrigkeit und Versagen. René fragte sich schon, ob er die Adresse falsch verstanden hatte, na hoppla, da stand er direkt vor dem Haus. Der Bildschirm an der Haustür war nicht mehr ganz neu, aber Luxusgegenden konnte er sich ohnehin nicht leisten. Ihm wurde geöffnet, einige muffige Treppen hinauf, eine Tapete in Altrosa und Möbel aus der letzten Zwischeneiszeit. Sie waren schon alle versammelt, und sie sahen ihn alle an mit diesem fremden und abschätzenden Besitzerblick,

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