Das Jahr der Maus
ins Zentrum tun, mit einem der schicken Bänder an der Wade, die alles meldeten, vor allem Ungehorsam. Keine Gitter, keine Wächter, nur diese schwarzen Trauerbänder an den Beinen. René war leicht. Er ging zum Fluß. Er setzte sich unter einen Brückenbogen. Der Herbst war eine goldene Münze. René saß da wie ein Kind, das gerade sitzen gelernt hat, und überlegte sich, womit er die Kennmarke herausschneiden konnte, die einen halben Zentimeter tief in seiner Hand die gegebene Zeit abtickte. René saß neben einer Pfütze. Er sah hinein. »Du siehst Scheiße aus, muchacho«, sagte er zu sich selbst. Dann nahm er das ganze T-D auf einmal. Es war zu wenig, um ihn zu töten. Aber er rollte nach einer Zeit kraftlos in die Pfütze, und erstickte dort an dem Wasser und seinem eigenen Erbrochenen. Und da fand ich ihn, von den Helfern geschickt, unter der Brücke, im Algen- und Abfallgestank, in der schwimmenden Kotze. Und ich las, was sein vergammelndes Gehirn mir zu sagen hatte. Weil die Helfer es so wollten. Das deutlichste Bild war das eine Blattes, dessen Stiel in einem kleinen Sandhaufen steckte. Das erste Haus des Schmerzes war voll.
Den Minister zu töten, war lächerlich einfach. Er glaubte nicht an Personenschutz, sondern an sein Charisma und die Vorsehung. Manche meinten, er litte am Kennedyvirus oder halte sich schlichtweg für unverwundbar. Da gerade Wahlkampf stattfand, mischte ich mich bei einem seiner Auftritte unter die Leute. Man sagte, er werde den König bei der nächsten Wahl beerben, für dieses Mal kämpfte er allerdings noch für den alten Monarchen. Die Anhänger seiner Partei schwenkten kleine Fähnchen mit den entsprechenden Symbolen, es waren unter den hochgehaltenen Plakaten auch welche mit seinem Konterfei zu sehen. Die Sonne schien. Es ging ein leichter Wind, und alles in allem war das Wetter vorbildlich. Der Minister badete in seiner Popularität, die die seines Königs aufzuzehren begann. Er war der Erbprinz Nr. 1. Das Kleinbürgertum umjubelte ihn, denn er hatte mit seinen Vorschlägen Furore gemacht, die von ihrem Namen (›Zukunftspaket‹) bis zu ihrer Ausführung (Brutalität in sanften Staffeln) den Schmarotzern den Krieg ansagten, und wenn es eines gab, was das Kleinbürgertum bei sinkenden Realeinkommen und steigenden Steuern nicht leiden konnte, dann waren es Schmarotzer. Der Minister war ein weltgewandter Mann. Seine großen Ambitionen versteckte er sorgsam zwischen den Zeilen, dort lasen sie die heraus, die diese Ambitionen unterstützten. Er war nicht links, nicht rechts, sondern vernünftig. Wenn die Gefolgschaft die Ausländer züchtigen wollte, warnte der Minister die Ausländer im Lande, den Bogen nicht zu überspannen. Wenn eine starke Minderheit die Wiedereinführung der Todesstrafe forderte, fragte sich der Minister öffentlich, warum in Ländern mit Todesstrafe die Kapitaldelikte in den letzten zwei Jahren so stark zurückgegangen waren, und die Widerlegung aufs Komma wollte eine Woche später niemand mehr hören. Und nun also das ›Zukunftspaket‹. Das Volk machte sich bereit für eine weitere Rede über soziale Stabilität und den Zwang, den Gürtel enger zu schnallen. Weitere Drohungen gegen die Faulheit im Land und gegen das Schmarotzertum der Sozialmißbraucher. Weitere Versprechungen über neue Arbeitsplätze und (womöglich) zu senkende Steuern. Die schwarzen Wägen fuhren vor, fast lautlos, fast abgasfrei. Der Minister stieg aus, da noch eng umgeben von Sicherheitsleuten, die er nach dem Zurechtstreichen seines grauen Anzugs auf Distanz hielt. (»Ich wünsche keine Paranoia, sondern echten Kontakt zu den Menschen draußen im Lande.«) Das Volk jubelte. Ein Meer von Fähnchen. Die Jugendorganisation der Partei hatte hübsche Anhängerinnen mobilisiert, die dem Minister Blumensträuße übergaben, und der Minister packte beim Händedruck zu wie ein Kamerad. Ich stand in der zweiten Reihe. Der Minister ließ sich viel Zeit mit dem Händeschütteln und sah dabei nur selten in die schwebenden Kameras, die die ganze Szene aus jeder erdenklichen Richtung einfingen. (»Die Politik ist zu einer Art Show verkommen. Das ärgert mich.«) Als er fast auf meiner Höhe war, nahm ich mein Fähnchen von der rechten in die linke Hand, drängte meine Vordermänner ein wenig auseinander, und kam gerade noch zurecht, um den Minister mit »Herr Tenier, Herr Tenier« auf mich aufmerksam zu machen. Er lächelte mich an. Er mußte gut durchtrainierte Lächelmuskeln haben, die
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