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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Blick nicht davongekommen. Vielleicht verdächtigte er mich des Diebstahls. Ich allerdings hatte immer streng auf die Ökologie meines Karmas geachtet. Kein Zweifel, Frau Dr. Bethge roch wie Freds Laden. Ich stellte sie mir als Kundin im ›Mitreya‹ vor. Lächerlich. Grausam. Denkbar. Die Ärztin stieg mit mir in den Keller des Gebäudes ab. Vor einer grau gestrichenen Eisentür ohne Klinke, zwei Stockwerke unter der Erde, machte sie halt. Sie ließ die ›Magnetkarte‹ in einen Schlitz gleiten und wartete ruhig das Ergebnis ihrer Überprüfung ab. Wenn ihr eben wirklich die Kontrolle über ihre Emotionen entglitten war, dann war jetzt wieder alles fein säuberlich verschnürt. Sie lächelte mich an. Erstaunlich. Diese Frau flirtete mit mir. Die Tür, die aussah wie für militärische Sicherheitsbedürfnisse gemacht, öffnete sich, indem sie in die Wand glitt, und wir traten hindurch. »Wohin gehen wir?« fragte ich, als sei ich sehr von dem darunterliegenden Gang in fahlem Neon beeindruckt, und wolle es dennoch nicht zeigen.
    »Ins Nirwana«, sagte Anita.
    Die Neonhölle war mindestens fünfzig Meter lang, und Anita war zu klug, um mit dahingeworfenen Bemerkungen über die technischen Standards zu prahlen, aber man merkte ihr den Stolz auf ihr kahles Reich schon an. Ansonsten wirkte der Ort durch sich selbst, ich bereitete mich auf Blut vor. Aber nachdem wir wieder einen der magisch stillen Aufzüge in gebürstetem Aluminium benutzt hatten, und im dämmerigen Licht von schießschartenartigen Öffnungen unter der schweren Decke eines großen Bunkers standen, wußte ich bereits, daß es kein Blut geben würde. Hier war alles sauber. Keine Möglichkeit zum Fließen. Das dämmerige Zwielicht wurde sofort von der Sanftheit einer indirekten Beleuchtung vertrieben, und die Wände schimmerten in sanften Pastellfarben. In jede der acht Wände schien ein schwarzes Fenster eingelassen, und erst die Ärztin machte eines davon hell, mit demselben Gerät, mit dem sie die Tür zum Totenreich geöffnet hatte. Hinter dem Fenster ein Raum in gesättigt esoterischen Farben. Angenehme Proportionen, freundliches Design. Ein Tisch, ein Bett, ein Stuhl, geschmacklich sauber aufeinander abgestimmt, ein Bücherregal, eine Stereoanlage. Es machte alles den Eindruck eines Wartezimmers, das ein freundlicher Zahnarzt mit einiger Stilsicherheit und Liebe eingerichtet hatte. Es war grauenhaft. Es war mörderisch. Nach einigem Umherschweifen fiel mein Blick durch die Perspektiven wie durch ein Sieb. Es stimmte etwas nicht mit diesem Raum. Er war verkehrt und böse. Und das reduzierte Etwas, die Karikatur eines Menschen, die dort auf diesem Bett saß, war für den umherstreifenden Blick nur der letzte Beweis, daß man es in diesem Raum mit einer Folterkammer zu tun hatte. Der Mann saß auf dem Bett, als habe man ihm die Nackensehnen durchtrennt. Ich dachte zuerst, er sei im Sitzen gestorben. Aber Anita erweckte ihn zum Leben, schlagartig, indem sie ihn über ein unsichtbares System ansprach, dessen Mikrofon in dem Schlüsselöffner, der Fernbedienung, der ›Magnetkarte‹ in ihrer rechten Hand zu sitzen schien.
    »Thorsten«, sagte sie, und der Kopf des Mannes klappte hoch wie an Schnüren gezogen. Ich muß wohl geschluckt haben. Die obere Hälfte des Gesichts bestand nur aus zwei Augen. Der Rest fiel in langen Linien, schmal, verdorrt, vertrocknet auf ein spitzes Kinn zu, nur kurz aufgehalten von den dicken Lippen eines seltsam verknoteten und versperrten Munds.
    »Bitte steh auf.«
    Der Mann stand auf wie ein Holzpuppe, die zu lange in ihrer Ecke gesessen ist, ein schrecklicher Pinocchio.
    Anita erklärte: »Das ist Thorsten Spohn. Einer der gefährlichsten Gefangenen der Bewegung 1. Mai.«
    Ich erinnerte mich an ein Gesicht, das von den Bildschirmen in den Großstädten auf die Zuschauer in den Straßen heruntergestrahlt worden war, Vorsicht Schußwaffen. Allerdings war die Ähnlichkeit mit dieser Ruine hier sehr gering. Von einer Verhaftung Spohns war nie die Rede gewesen, offiziell wurde immer noch nach ihm gefahndet, während seine freien Genossen hie und da auf pyrotechnischem Weg hauptsächlich Sachschaden erzeugten. Ein pensionierter Armeegeneral hatte neulich behauptet, die Bewegung 1. Mai sei grundsätzlich eine Erfindung der Geheimdienste, vor allem des KND.
    »Herr Muntadas, wie lange, glauben Sie, ist Thorsten schon bei uns.«
    »Ich wage nicht einmal eine Vermutung.«
    »Nun, Thorsten wäre bald bereit für die zweite Phase, die

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