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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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dem Checkpoint waren Spuren wie vom Aufprall eines größeren Wagens zu sehen gewesen, die Milizionärin, die die Einladung durch ihr Lesegerät schob, hatte dazu nichts zu sagen gehabt. Arbeiten Sie gerne mit Menschen? Sind sie gern viel unterwegs, auch im Freien? Dann haben wir das richtige für Sie! Sprechen Sie mit unseren Einstellungsberatern. Milizionär: Der Beruf so interessant wie das Leben. Die Urbanen Milizen Deutschlands. Wenn ich etwas mehr Zeit gehabt hätte, hätte ich sie vielleicht gefragt, wie es war, tagein, tagaus, eine Maschinenpistole hinter irgendwelchen prominenten Ärschen herzutragen, oder täglich eintausend Magnetkarten durch ein Lesegerät zu ziehen. Hatte ich aber nicht.
    Anita bewohnte das ganze Erdgeschoß einer Villa, die geschmackssicher mit hinduistischen und buddhistischen Kunstwerken der letzten tausend Jahre ausgestattet war. Ansonsten herrschte eine gewisse Kargheit vor, abgesehen von dem Geruch nach der Asche von Räucherstäbchen und den Bücherregalen, die in jedem Zimmer mindestens eine Wand in Anspruch nahmen. Da war auch noch ein Fick in der Luft, vielleicht hatte Anita auf Nummer Sicher gehen wollen und ein paar Pheromone unter die Voodoogebete gemischt, sie wollte sich mit mir ja entspannen. Ich kam mir in meiner Hülle als Manuel Muntadas sehr verdinglicht vor und mußte über all das lächeln. Der Hauscomputer führte mich in der Wohnung herum und erklärte mir jedes Kunstwerk, bis ich um Stille bat. Er warnte mich aber dann doch noch, eine der Türen zu öffnen, angeblich machte sich Anita dahinter ›frisch‹, wie sich der Computer etwas unbeholfen ausdrückte. Wenn ich nicht gewußt hätte, daß alles aufgezeichnet wurde, in 3D, Stereo und Farbe, ich hätte darüber gelacht. Ich zog es dann aber doch vor, mich mit einem Mineralwasser auf einem der Ledersofas zu installieren, bis Frau Dr. Bethge geruhte, mir ihre Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Als Anita erschien, sah sie mittelmäßig verführerisch aus. Keine Brille. Sie trug ein etwas zu gewagtes Oberteil aus durchbrochener Gaze, das einer jungen Frau besser gestanden hätte, weil es ihren Körper als bloß jung erhalten denunzierte. Der Rock umspannte ihre trainierten Beine so weit nach unten hin (es hatte da auch ein wohnungseigenes Fitneßstudio gegeben), daß sie Probleme mit dem Laufen haben mußte. Sie nahm ein Glas, tat so, als wolle sie etwas daraus trinken, und spielte unentschlossen mit einer Lilie, die ihre Blüte lässig-lasziv aus einer blauen Vase heraushängen ließ. Anita sagte: »Standby«, und meinte damit den Wohnungscomputer, der ab jetzt seine Augen und Ohren verschließen sollte (in den besseren Kreisen galt der Ausdruck ›Standby‹ mittlerweile als genitale Aufforderung). Ich stand auf und ging zu ihr hin. Ich legte eine Hand in ihren Nacken und zog ihren Kopf her. Als ich meine Zunge zwischen ihre nervösen und trockenen Lippen steckte, durchfuhr es sie. »Oh«, sagte sie, und setzte sich auf das Sofa, von dem ich gerade eben aufgestanden war. Sie krümmte sich und fing an zu husten. Ich zog einen Brief, den die Helfer mir gegeben hatten, aus meiner Jackentasche und legte ihn auf den gläsernen Tisch vor dem Sofa. In dem Brief konnte sie nachlesen, daß sie gerade mit Asthma Typ F infiziert worden war, einer vor wenigen Jahren neu aufgetretenen Spielart, die innerhalb von sechs Monaten zum Tod durch Ersticken führte und bisher gegen die Anstrengungen der Ärzte immun gewesen war, denn sie schien auf molekularer Ebene die Reizzentren im Hirn der Opfer zu manipulieren. Anita krümmte sich immer noch. Mit äußerster Willensanstrengung löste sie sich aus ihrer Haltung und unterdrückte den Husten, um zu röcheln:
    »Hilf mir.«
    Selbst wenn ich etwas dazu zu sagen gehabt hätte, hätte sie es wohl kaum verstanden, denn sie fing sofort wieder zu husten an, heftiger als vorher. Ich zog meine Jacke an und verließ das Haus. Auf dem Rasenstück, das die Villa von einer kaum befahrenen Straße trennte, war ihr Husten noch zu hören, eines der Fenster mußte aufstehen. Irgendwo bellte ein Hund. »Daß ihm das hier erlaubt wird«, dachte ich verwundert. Ich war schon eine Zeit gegangen, da konnte ich mir meine Erleichterung erst eingestehen. Thorsten Spohn war aus mir verschwunden, und das zweite Haus war zu. Ich brachte meinen Hormonhaushalt in Ordnung, während ich auf leichten Füßen dahinging. Ein künstlicher Mond stand nah und riesengroß, seine Sonnenflügel reflektierten das

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